Der wunderbare Buchanfang: XXX. Teil

 

"Ein Buch, das nicht mit einem Paukenschlag anfängt, lese ich nicht!"
(Zitat von Paganini, dem Kater)


Die Paganini´s-Redaktion will sich dieser Polemik nicht zu Hundert Prozent anschließen.
Und doch bleibt es unbestreitbar: Die Verführungskraft der ersten Zeilen eines Buches entscheidet sehr wohl darüber, ob wir es tatsächlich zu Ende lesen, oder frühzeitig zur Seite legen.

Deshalb in loser Folge bei Paganini´s:
"Der wunderbare Buchanfang!"

Heute ein Buch, das seinen Titel großzügig mit einer Novelle von Dieter Wellershoff teilt.


Giuseppe Tomasi di Lampedusa, DIE SIRENE

Im Spätherbst des Jahres 1938 befand ich mich auf einem Höhepunkt von Weltschmerz. Der Schauplatz dieser Menschenverachtung war Turin, wo ich damals lebte. Die "tota" Nr. 1 - wie ein solches Mädchen im Piemont genannt wird - hatte, während ich noch schlief, in meinen Taschen nach irgendeinem Fünfzig-Lire-Schein gesucht und dabei auch ein Briefchen der "tota" Nr. 2 entdeckt, das trotz Fehlern in der Rechtschreibung über die Natur unserer Beziehungen keinen Zweifel ließ.
Mein Erwachen war ebenso plötzlich wie stürmisch gewesen.


Boncuk, der Kater, präsentiert Lampedusas "Sirene"


Lampedusa beginnt seine Erzählung "Die Sirene" (einer der wenigen Texte, die neben seinem großen Roman "Der Leopard" entstanden sind) mit einer Prahlerei. Aus dieser Prahlerei erwächst eine Kränkung. Der junge Paolo, Mitarbeiter der "La Stampa", fühlt sich durch seine liebreizenden "tota 1" und "tota 2" in seiner Eigenliebe getroffen (da Beide ihm beleidigt den Laufpass geben) und beschließt "Die Welt und ihre Pracht auf einige Zeit zu verlassen". 

Als Rückzugsort und Schmollwinkel sucht er sich ein Kaffeehaus aus, in dessen dunkelstem Winkel er sich hinter der Lektüre diverser Zeitungen verschanzt. Der Leser wird also Zeuge eines, von Sinnenfreuden verkaterten, ansonsten draufgängerischen Sizilianers, dessen Ernüchterung zu keiner Sorge Anlass gibt.  Bald schon, das ist rasch klar, wird er erneut dem Locken der Mädchen folgen. 

Doch zuvor gerät er in den Bann eines anderen Gastes der Lokalität, dem weltberühmten Gräzisten Rosario La Ciura. Ein hochnäsiger, alter Herr, der aus seiner Verachtung gegenüber seiner Umwelt kein Hehl macht. Dennoch findet er Gefallen an seinem jungen, sizilianischen Landsmann, ähnlich der Zuneigung "die eine alte Jungfer zu ihrem Kanarienvogel verspürt". 

Es ist grandios, wie Lampedusa den jungen, ungestümen Aristokraten Paolo auf den alten  (ausschließlich seiner Genialität den Weltruf verdankenden) Geisteswissenschaftler und Poeten treffen lässt, damit sich das Dionysische am Apollinischen ausgiebig reiben darf. Sie leben in Parallelwelten zwar und treffen sich dennoch in einem Überdruss, geboren aus unbestimmter Sehnsucht heraus. 

Der mönchisch lebende Rosario weiht sein Leben als "Auserkorener" einer höheren Liebeserlesenheit
- der Kunst. Der junge (durchaus gebildete u. belesene), von Haus aus privilegierte Paolo, lechzt nach Leben und irdischen Freuden. Und er verspürt dennoch einen unerklärlichen Neid auf die wegwerfende Askese des Anderen, der eine besondere Erfahrung, ein Blick über eine außerordentliche Grenze hinaus, voran gegangen zu sein scheint.

Der Sirene Stimme, der Sirene archaische Liebe in ihrer amoralischen, lockenden Schönheit ist es gewesen, die Rosario (nach einer 20 Tage andauernden Betörung) auf immer der "Gewöhnlichkeit" entsagen macht. Lampedusa lässt den alten Herrn zu einem schwelgenden, dichtenden, schwärmerisch Beglückten werden, wenn er schließlich dem jungen Gefährten sein Liebes-Abenteuer (zu profan, natürlich, dieser Ausdruck!) erzählt. 

Dem Leser erschließt sich indes durch dessen Sprache eine köstliche Welt hinter der Welt, eine allumfassende Lebendigkeit  und wundersam erscheinende Vollkommenheit, die wir tatsächlich nur manchmal durch die Kunst erahnbar finden. Mit den Worten der Sirene gesagt:
"Ich bin alles, weil ich nur fließendes Leben bin, und nichts als das; ich bin unsterblich, weil aller Tod in mich einmündet (...);in mir vereinigt werden sie wieder Leben, das nicht mehr persönlich und begrenzt ist, sondern panisch und daher frei".

Unbedingt lesenswert!

(P.S. Nein, wir haben hier noch NICHT alles verraten. 
Die Lektüre bleibt inhaltlich spannend und nicht nur stilistisch ein Fest!)



Uns liegt die dtv-Ausgabe i. d. Übersetzung v. Charlotte Birnbaum vor.
Mehr zum Buch & Rezensionen (bzgl. Neuübersetzung v. Moshe Kahn) bei PERLENTAUCHER


Hinweise zu Dieter Wellershoffs Theorie von "Literatur als Sirenengesang" --->HIER
"Die Sirene" von D. Wellershoff lassen wir ein andermal im "Wunderbaren Buchanfang"
den Gesang erheben!

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