Paganini´s...

Motto von Paganini, dem Kater:
"Es lebe die totale Subjektivität des Feuilleton!"

Sonntag, 27. September 2020

Der wunderbare Buchanfang: XXX. Teil

 

"Ein Buch, das nicht mit einem Paukenschlag anfängt, lese ich nicht!"
(Zitat von Paganini, dem Kater)


Die Paganini´s-Redaktion will sich dieser Polemik nicht zu Hundert Prozent anschließen.
Und doch bleibt es unbestreitbar: Die Verführungskraft der ersten Zeilen eines Buches entscheidet sehr wohl darüber, ob wir es tatsächlich zu Ende lesen, oder frühzeitig zur Seite legen.

Deshalb in loser Folge bei Paganini´s:
"Der wunderbare Buchanfang!"

Heute ein Buch, das seinen Titel großzügig mit einer Novelle von Dieter Wellershoff teilt.


Giuseppe Tomasi di Lampedusa, DIE SIRENE

Im Spätherbst des Jahres 1938 befand ich mich auf einem Höhepunkt von Weltschmerz. Der Schauplatz dieser Menschenverachtung war Turin, wo ich damals lebte. Die "tota" Nr. 1 - wie ein solches Mädchen im Piemont genannt wird - hatte, während ich noch schlief, in meinen Taschen nach irgendeinem Fünfzig-Lire-Schein gesucht und dabei auch ein Briefchen der "tota" Nr. 2 entdeckt, das trotz Fehlern in der Rechtschreibung über die Natur unserer Beziehungen keinen Zweifel ließ.
Mein Erwachen war ebenso plötzlich wie stürmisch gewesen.


Boncuk, der Kater, präsentiert Lampedusas "Sirene"


Lampedusa beginnt seine Erzählung "Die Sirene" (einer der wenigen Texte, die neben seinem großen Roman "Der Leopard" entstanden sind) mit einer Prahlerei. Aus dieser Prahlerei erwächst eine Kränkung. Der junge Paolo, Mitarbeiter der "La Stampa", fühlt sich durch seine liebreizenden "tota 1" und "tota 2" in seiner Eigenliebe getroffen (da Beide ihm beleidigt den Laufpass geben) und beschließt "Die Welt und ihre Pracht auf einige Zeit zu verlassen". 

Als Rückzugsort und Schmollwinkel sucht er sich ein Kaffeehaus aus, in dessen dunkelstem Winkel er sich hinter der Lektüre diverser Zeitungen verschanzt. Der Leser wird also Zeuge eines, von Sinnenfreuden verkaterten, ansonsten draufgängerischen Sizilianers, dessen Ernüchterung zu keiner Sorge Anlass gibt.  Bald schon, das ist rasch klar, wird er erneut dem Locken der Mädchen folgen. 

Doch zuvor gerät er in den Bann eines anderen Gastes der Lokalität, dem weltberühmten Gräzisten Rosario La Ciura. Ein hochnäsiger, alter Herr, der aus seiner Verachtung gegenüber seiner Umwelt kein Hehl macht. Dennoch findet er Gefallen an seinem jungen, sizilianischen Landsmann, ähnlich der Zuneigung "die eine alte Jungfer zu ihrem Kanarienvogel verspürt". 

Es ist grandios, wie Lampedusa den jungen, ungestümen Aristokraten Paolo auf den alten  (ausschließlich seiner Genialität den Weltruf verdankenden) Geisteswissenschaftler und Poeten treffen lässt, damit sich das Dionysische am Apollinischen ausgiebig reiben darf. Sie leben in Parallelwelten zwar und treffen sich dennoch in einem Überdruss, geboren aus unbestimmter Sehnsucht heraus. 

Der mönchisch lebende Rosario weiht sein Leben als "Auserkorener" einer höheren Liebeserlesenheit
- der Kunst. Der junge (durchaus gebildete u. belesene), von Haus aus privilegierte Paolo, lechzt nach Leben und irdischen Freuden. Und er verspürt dennoch einen unerklärlichen Neid auf die wegwerfende Askese des Anderen, der eine besondere Erfahrung, ein Blick über eine außerordentliche Grenze hinaus, voran gegangen zu sein scheint.

Der Sirene Stimme, der Sirene archaische Liebe in ihrer amoralischen, lockenden Schönheit ist es gewesen, die Rosario (nach einer 20 Tage andauernden Betörung) auf immer der "Gewöhnlichkeit" entsagen macht. Lampedusa lässt den alten Herrn zu einem schwelgenden, dichtenden, schwärmerisch Beglückten werden, wenn er schließlich dem jungen Gefährten sein Liebes-Abenteuer (zu profan, natürlich, dieser Ausdruck!) erzählt. 

Dem Leser erschließt sich indes durch dessen Sprache eine köstliche Welt hinter der Welt, eine allumfassende Lebendigkeit  und wundersam erscheinende Vollkommenheit, die wir tatsächlich nur manchmal durch die Kunst erahnbar finden. Mit den Worten der Sirene gesagt:
"Ich bin alles, weil ich nur fließendes Leben bin, und nichts als das; ich bin unsterblich, weil aller Tod in mich einmündet (...);in mir vereinigt werden sie wieder Leben, das nicht mehr persönlich und begrenzt ist, sondern panisch und daher frei".

Unbedingt lesenswert!

(P.S. Nein, wir haben hier noch NICHT alles verraten. 
Die Lektüre bleibt inhaltlich spannend und nicht nur stilistisch ein Fest!)



Uns liegt die dtv-Ausgabe i. d. Übersetzung v. Charlotte Birnbaum vor.
Mehr zum Buch & Rezensionen (bzgl. Neuübersetzung v. Moshe Kahn) bei PERLENTAUCHER


Hinweise zu Dieter Wellershoffs Theorie von "Literatur als Sirenengesang" --->HIER
"Die Sirene" von D. Wellershoff lassen wir ein andermal im "Wunderbaren Buchanfang"
den Gesang erheben!

Freitag, 4. September 2020

Die wunderbare "Melissa kriegt alles":

Mit Rene Pollesch eröffnet das Deutsche Theater Berlin die neue Spielzeit



Theaterplakat DT-Berlin, Foto@Paganini´s

Es ist schon paradox. Da ordern wir, die Paganini´s-Redaktion, online die Tickets der untersten Preis-Klasse, sitzen im "Olymp" und sehen die -auf Leinwand- projizierten Schauspieler-Götter nur mit abgeschnittenen Köpfen. Dies ganz profan geschuldet, den persönlichen Zeiten des (sagen wir mal) eher knappen Geldes. Und doch lassen wir uns per Taxi zum Deutschen Theater Berlin sowohl hin- als auch zurück kutschieren und finden nichts dabei. Dies, wiederum sehr profan, geschuldet der Bequemlichkeit die eine gute Ausrede kennt, nämlich die U-Bahn in ihrem aktuellen Gefahren-Zustand. Und später dann, während des eigentlichen Ereignisses, dem wiederum dies ganze Drum und Dran geschuldet wurde, erfahren wir, dass dies Verhalten nichts anderes als Kommunismus ist. Denn der besteht, so hören wir, aus dem Paradoxon des Zweifelns bei gleichzeitiger Akzeptanz von ALLEM. Ob diese Behauptung, heraus gefiltert aus Rene Polleschs jüngstem Stück "Melissa kriegt alles", stimmt oder nicht stimmt oder ob wir (in Trance versunken) dies alles einfach falsch verstanden haben, ist uns (Pollesch sei Dank) schnurzpiepegal. Vollkommen schnuppe!
Und das tut richtig, richtig gut!

Oh, was sind wir froh und dankbar, dass wir keine Kritik oder Rezension über diesen ersten echten(!) Theaterabend (nach gefühlt unendlich vielen Online-Darbietungen) schreiben müssen. Da würden wir schwitzen und ächzen müssen und am Ende jämmerlich versagen. Wie kann man, wie soll man dieses Stück in Worte fassen, wie erklärlich machen, was da auf der Bühne passiert und was gleichzeitig nicht passiert.
Denn Kritik zu üben bedeutet doch auch, darüber zu schreiben, was als fehlend empfunden wird. Gerade in diesen, unseren Zeiten des "Leben mit dem Corona-Virus". Da fehlt ja doch wahrlich so unbeschreiblich viel! (Oder?)

Doch nur nicht verplappern. Straight Eins nach dem Anderen. Wie es diese 6 Schauspieler auf der Bühne zumindest gar nicht tun. Denn die verplappern sich vehement und da führt dann Eins zum Anderen und ergibt dennoch so gar keinen rechten Sinn. Am Beginn kriegt "Melissa alles" und am Ende steht das Entsetzen (oder besser: die Wehmut), dass der Verlust (von etwas Kostbarem/Geliebten) durch einen Ersatz kompensiert zu werden üblich ist.
Und dennoch lässt sich beschreibend so gar kein Bogen fassen.

Springen wir also ganz an den Anfang unseres Theater-Abends. Da konnte man schon unwirsch werden. Im Feuilleton nennt sich das "fehlender Resonanzraum". Wir nennen es, wiederum profanisiert, die Abwesenheit von Trauben erwartungsfroher, zeigefreudiger Menschen, die sich in der Theater-Bar schon mal mit Schampus einstimmen können.
Im Ernst, ein lauer Alt-Weiber-Sommer, ein ausverkauftes Stück im großen Haus des Deutschen Theaters zu Berlin - und weit und breit kein Service-Stand, an dem man auf die Schnelle zu seinem Glaserl Weißwein käme. Bei diesem ausgedünnten Besucher-Andrang, bewaffnet mit Masken, sollte das möglich sein. (Nein, in der Kantine wurde ausgiebig gekocht, ignoriert und nicht "ausgeschenkt").
Also hieß es -mies gelaunt und gänzlich unbetäubt- den Pfeilen nach, um endlich auf dem Sitz zu landen. Ironisch-symbolisches Hihihi und jede Menge Ersatz für uns, DAS PUBLIKUM, macht teuflische Begrüßungs-Freude, denn "Melissa" hat vorgesorgt. Wir blicken erstaunt in die Gesichter einer erwartungsvollen Besucher-Meute aus Zeiten der eng besetzten Theater-Bestuhlung. Kaum geärgert und kaum amüsiert, dann geht es auch schon auf der Bühne los.

Und: Surprise, surprise, da wird dann tatsächlich - an einem von Rene Pollesch kreierten Abend - ein ziemlich typischer Rene Pollesch gezeigt. Huch??? Und das in diesen, unseren Zeiten, wo bleibt denn da, wo ist denn da, ja, wo findet sich denn da:
 a)DIE RELEVANZ
 b)DER ZEITBEZUG
 c)DER CORONA-BEZUG
 d)DIE NEUERFINDUNG
und
e)DIE METAMORPHOSE VON THEATER???

Uns alles schnuppe, uns alles wurst und uns alles obendrein schnurzpiepegal (s.o.)!

Ein Puppenhaus steht auf der Bühne, die Farbe Quietschbuntrot korrespondiert possierlich mit der behaupteten Kommunismus-Tapete in Schwarz-Weiß, eine überragende Kathrin Angerer ruft nach ihrer Katze ("Komm zurück, kleine Shiva des Militärkommunismus") und ein (schon immer zutiefst russischer!?) Martin Wuttke stampft mit dem Fuß, wie ein verschusselt, dementer Möchtegern-Revolutionär. Und alle 6 Schauspieler agieren zusammen wie nur Kinder spielen, selbstvergessen, anrührend und teilweise versunken im Miteinander und Ohneeinander. Und wieder Einer gibt als Autor und Regisseur den roten Faden vor und wir schauen zu.

Das Publikum hat sich scheinbar nach mittlerweile 5 oder 6 (?) Vorstellungen aus der Lethargie befreit. Es nimmt begleitend ziemlich lauten Anteil. Bis zum Schluss.
Dann nämlich donnernder, trampelnder, johlender, grölender (kurz: begeisterter) Applaus.
Und wir klatschen auch. Bis die Hände schmerzen. Mit Gänsehaut.
Das war kein Ersatz. Denn da ist kein Verlust.
Nur THEATER!




Parallel zu dieser Theaterproduktion hat René Pollesch mit dem Ensemble aus Melissa kriegt alles außerdem einen Film gedreht, der am 23. September erstmalig im DT gezeigt wird: 
"Непский проспект – Nepski-Prospekt"

Wir waren HIER ----->
Zur Filmpremiere v. Rene Pollesch HIER---->