Das Haus
„Das Haus hält mich fest!“
Mit diesem Gedanken finde ich mich in
Pauline zurecht. Ich bin 58 Jahre alt und komme gerade vom morgendlichen Joggen,
rund um den nahe gelegenen See, zurück.
In meiner gepflegten Hand halte ich eine
Papiertüte mit knusprigen Brötchen.
Mit elastischen Schritten nehme ich die
Stufen, der von Putten eingerahmten, geschwungenen Teppe, die hinauf auf meine
Veranda führt. Es ist nicht notwendig, meinem Mann zu begegnen, indem ich den
Haupteingang, über das Erdgeschoss der wilhelministischen Villa, benutze.
Allerdings ist anzunehmen, dass mein
Mann noch schläft.
„Er verschläft sogar den Schlaf in seinem Rausch“, denke ich.
Der Himmel ist
blau, eine Sonne scheint und die Luft ist getränkt vom Duft, der
selbstgezüchteten Rosen, in unserem Garten. Es fällt mir schwer, dieses
Possesivpronomen gedanklich zu verwenden, verweist es doch auf den Plural, aus
dem eine Ehe besteht.
Aus dem Plural meiner Ehe sind diverse Gemeinsamkeiten
hervorgegangen, unter anderem eine Tochter und eben dieses Haus. Wir haben es
vor ungefähr zwanzig Jahren zu gleichen
Anteilen finanziert, auch mit Hilfe meiner und seiner Eltern.
Wir kommen Beide
aus begütertem Elternhaus und wir sind Beide Einzelkinder. Uns ist es lange
Zeit hindurch in jeder Hinsicht gut gegangen.
„Er erstickt in seinem eigenen
Sumpf!“ denke ich. Mein Blick registriert die schief und verzogen hängenden
Rollos über seiner Fensterfront. Er hat sie seit Tagen nicht mehr
hinaufgezogen, um lüften zu können.
Mein Mann ist seit Jahren nur noch ein Tier
für mich. Warum soll er nicht leben und sterben, wie eine Kreatur aus unteren
Regionen! „Du solltest ihm verzeihen, Mama!“ hat unsere Tochter zu mir gesagt,
als sie am vergangenen Sonntag mit mir zu Mittag gegessen hat. Ich weiß, dass
sie Recht hat.
Ich sollte meinem Mann vergeben, aber in der eisigen Kälte
meines inneren Bezuges zu ihm, findet sich keine Wärme für diesen Gnadenakt.
„Du musst aufhören, ihn zu hassen!“ hat meine Tochter an einem weiteren Sonntag,
vor drei Monaten, zu mir gesagt. „Ich hasse ihn nicht mehr!“ habe ich geantwortet.
„Und wenn das Hass sein sollte, was ich für ihn empfinde, in meinem Innen, dann
fühle ich ihn jedenfalls nicht mehr!“ Und damit habe ich die Wahrheit gesagt.
Meine Tochter versteht das nicht und ist über meine Kälte entsetzt. Ich nehme
das meiner Tochter nicht übel. Sie hat ein gutes Herz. Ich wollte immer eine
Tochter, mit einem guten Herzen, das sich an der Liebe und Wärme der Eltern
orientieren kann.
Es ist uns lange gelungen und dann ist die Zeit gekommen, in
der es eben nicht mehr gelingen wollte. Mein Mann hat vor fünf Jahren begonnen,
meine Liebe zu ihm zu töten.
Meine Liebe zu ihm ist mein Licht gewesen. Es ist
erloschen! Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Die Liebe zwischen zwei Menschen
ist ein Mysterium. Wenn diese Liebe geht, fehlen manchmal die Erklärungen. In
der Zeit, in der ich mich noch an dieses Licht erinnern konnte und es mir
zurückgewünscht habe, konnte ich einen lebendigen Hass auf meinen Mann fühlen.
Ich kann nicht mehr an dieses Licht anknüpfen, weil ich weiss, dass dieses Licht nicht mehr zu mir hinein finden
wird. Es hat lange gedauert, bis ich diese Erkenntnis akzeptieren konnte. Mit
der Akzeptanz dieses Umstandes, ist die Erinnerung an diese Liebe sinnentleert
gewesen. Meine Erinnerung an dieses Licht würde mich erneut verwundbar werden
lassen.
Und so lebe ich in meiner Kälte und werde sie nicht vertreiben können,
so lange ich lebe.
„Das Böse ist die Abwesenheit von Liebe!“ hat meine Tochter
zu mir gesagt, an jenem Sonntag vor zwei Wochen. Sie ist aus dem Erdgeschoss,
das von meinem Mann bewohnt wird, mit fünf Mülltüten unter beide Arme geklemmt
zu mir ins Obergeschoss herauf gelaufen.
Die Mülltüten haben bei jedem ihrer Schritte geklirrt und gescheppert. Ich wusste, was sich darin
befindet. „Warum trägst Du die Flaschen zu mir hinauf und steckst sie nicht in
den Flaschencontainer“ habe ich erwidert.
„Er trinkt sich tot!“ hat meine
Tochter geantwortet.
„Ich liebe Dich!“ habe ich zu ihr gesagt und sie im Arm
gehalten. Ihre Tränen haben mich berührt. Es tut mir wirklich sehr leid, dass
meine Tochter zusehen muss, was aus der Liebe ihrer Eltern geworden ist.
„Du
musst es nicht verstehen, Jo!“, habe ich zu meiner Tochter gesagt. Ich habe mich
daran erinnert, wie ich ein halbes Jahr zuvor, die Wohnung meines Mannes notdürftig
gesäubert und aufgeräumt hatte, in einer seiner kurzen Abwesenheiten. Danach
habe ich mich übergeben müssen.
Für einen winzigen Augenblick ist die Kälte von
mir weichen gemacht worden. Es ist schrecklich gewesen. Ich habe ein wildes Durcheinander in mir
verspüren müssen, wie eine Explosion, die mich in Fetzen sprengen will. „Warum
räumt seine kleine Schlampe nicht bei ihm auf. Er leidet doch wegen ihr und
nicht wegen mir und nicht wegen seiner Familie und nicht wegen seiner Schuld!“
hat es in mir gehämmert, während ich mit dem Kopf über der Toilettenschüssel
hing.
Danach bin ich meiner Kälte dankbar gewesen, die eine Eisentür
zwischen mir und meinem Mann installiert hat. An dieser Tür ist kein Rütteln
mehr, seitdem! Ich stehe noch immer
gedankenverloren auf meiner Veranda.
Gegen das schmiedeeiserne Geländer gelehnt, blicke ich auf die
Rosenhecke in unserem Garten. Die Papiertüte mit den Brötchen droht einzureißen.
Bevor die Brötchen über den Steinboden kullern, werde ich mich von den Gedanken
losreißen und den Tisch hier draußen decken. Das sind noch Zeiten gewesen, als
wir Zwei hier draußen gesessen haben, mein Mann und ich, oder zu Dritt, mein
Mann und ich und unsere Tochter Josefine. Diese Zeiten sind verloren gegangen!
Ich habe mich mittlerweile in meinem neuen Leben eingerichtet.
Ich bin eine gepflegte,
kultivierte und wohlhabende Frau und funktioniere in meiner Arbeit und in
meinen sozialen Verpflichtungen. Die gemeinsamen Freunde haben sich nach und
nach von meinem Mann und mir zurückgezogen, oder wir von Ihnen, ein jeder für
sich. Ich begleite, seit einiger Zeit, den Damenchor unserer Gemeinde auf der
Orgel oder auf dem Klavier. Mit einigen der Sängerinnen treffe ich mich, dann
und wann, zu gemeinsamen Aktivitäten und der Pastor ist ein echter Freund geworden, der mich in
Konzerte und Theateraufführungen begleitet.
Für eine neue Partnerschaft bin ich
noch nicht bereit, obwohl es einige Bewerber gegeben hat. Ich weiß, dass ich
keinen Mann mehr so lieben werde, wie einst meinen Mann. Ich bin fünfunddreißig
Jahre alt gewesen, als ich Christopher
zum ersten Mal in der Volkshochschule begegnet bin. Ich habe dort als Fachbereichsleiterin
in der Erwachsenenbildung für Kunst und Religion gearbeitet.
Christopher ist
mit seinen neunundzwanzig Jahren die Fachbereichsleitung für italienisch und
spanisch angetragen worden. Er ist jung gewesen und er ist schön gewesen und er
ist straight gewesen. In seiner legeren Art, die sich das zielgerichtete
Vorgehen nicht anmerken ließ, flog ihm
einfach alles zu, was er sich wünschte. Seine Anziehungskraft auf mich ist überwältigend
gewesen.
„Das ist mein Mann!“ habe ich gewusst, als er mir zur Begrüßung die
Hand entgegengestreckt hat. Er ist auf den Milimeter genauso groß wie ich und
da ich höhere Absätze getragen habe, muss ich ihm recht groß erschienen sein.
Er strahlte mich aus seinen blauen Augen an, strich sich eine pechschwarze
Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte: “So sieht natürlich das Kunst-Ressort
aus!“
„Italienische Geigen zur Begrüßung“, lachte ich zurück und klapperte mit
meinen Absätzen, als ich glücklich in mein Büro zurückgelaufen bin.
Bei uns
Beiden ist alles sehr schnell gegangen. Schnell haben wir uns zum ersten Mal
miteinander zum Essen verabredet. Schnell sind wir noch am selben Abend
miteinander ins Bett gegangen. Schnell hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten
möchte. Schnell habe ich „Ja“ gesagt und schnell ist unsere Tochter auf die
Welt gekommen. Wir sind ein beneidetes Paar gewesen, mit Glück und Freiheit in
den Augen. Obwohl meine Augen grünbraun sind und mein Haar honigblond, sind wir
oft für Geschwister gehalten worden.
Unser schmaler Körperbau und die lässige Arroganz unserer Bewegungen,
hinterließen bei den Menschen eine ähnliche Wirkung. Unser Altersunterschied
von sechs Jahren ist nie ein Thema zwischen uns gewesen. Ich hatte auch vor
Christopher Erfahrungen mit jüngeren Männern gehabt, ohne das bewusst anziehen
zu wollen. In der geordneten Welt der Dienstpläne und Dienstbesprechungen des
öffentlichen Dienstes, sind wir die unkoventionellen Paradiesvögel gewesen, die
für Aufsehen sorgten.
Vor ungefähr zwölf Jahren habe ich mich von der
Vorlkshochschule verabschiedet. Meine Mutter ist, drei Jahre nach dem Tod meines
Vaters, unspektakulär an den Folgen
mehrerer Schlaganfälle verstorben und ich konnte gut vom Erlös des geerbten
Unternehmens leben. Aus Freude habe ich allerdings Klavierunterricht angeboten.
Meine Tochter versteht noch immer nicht, warum ich sie zwei Jahre später auf
ein Internat geschickt habe.
Du hattest doch genügend Zeit für meine
Erziehung!“ sagte sie neulich, an einem der Sonntage zu mir, an denen sie mich
und ihren Vater im Erdgeschoß besuchen kommt.
Durch meine Kälte ihrem Vater
gegenüber, ist meine Tochter mir gegenüber misstrauisch geworden. Sie scannt
ihre Vergangenheit nach Fehlern ab, die sie mir nachweisen kann.
Ich verstehe
meine Tochter und ich gebe mir auch keine Mühe, ihr Misstrauen zu entkräften.
Ich will, dass sie in ihrer Mutter irgendwann den Menschen erkennen kann, der
sie gewesen ist. Liebe und Verständnis erwächst meines Erachtens nur aus der
Authentizität und nicht aus der Lüge.
Dennoch bin ich, in diesem Punkt ihrer
Biografie und meiner damaligen Entscheidung, nicht wirklich aufrichtig. „Vor
einigen Jahren ist es für Dich sehr wichtig gewesen, dass Du dich in das
Internat zurückziehen konntest....!
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