Der wunderbare Buchanfang: XXXXII. Teil!

  "Ein Buch, das nicht mit einem Paukenschlag anfängt, lese ich nicht!"
(Zitat von Paganini, dem Kater)

Die Paganini´s-Redaktion will sich dieser Polemik nicht zu Hundert Prozent anschließen.
Und doch bleibt es unbestreitbar: Die Verführungskraft der ersten Zeilen eines Buches entscheidet sehr wohl darüber, ob wir es tatsächlich zu Ende lesen, oder frühzeitig zur Seite legen.

Deshalb in loser Folge bei Paganini´s:
"Der wunderbare Buchanfang!"

Es geht diesmal um ein wirklich außergewöhnliches Buch, das durch seine literarische Schönheit und vollkommene Eigenart besticht. 

Sebastian Schinnerl
"Der Teufel ist ein Whistleblower I"

Amouse-Bouche

"Diese orientalische Humoreske spielt in der Volksrepublik Tùùrgistan. Achttausend Meilen entfernt im Kaukasus zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer. Die Welt weiss nichts von diesem Land. Es erscheint auf keiner Landkarte. Es ist auf Androhung von bis zu drei Jahre Exoclasion verboten über "Das Geheimnize" zu sprechen. Wer "Das Geheimnize" offenbart, der wird von den Häschern des Regimes bis in den hintersten Winkel gejagt und
gestellt.

Mir schreiben Roman."


Redaktionschef "Boncuk", der Kater & "Pati", der Hospitant,
bestaunen Sebastian Schinnerls Buch.


Was Literatur auch heute noch vermag, zeigt dieses - abseits des Literaturbetriebs im Selbstverlag herausgebrachte - Buch, dessen (eventuell nicht ganz glücklich gewählter) Titel, die Paganini´s-Redaktion zunächst einen kalten Agenten-Thriller vermuten ließ. Doch bereits ein kurzer Blick in die Leseprobe, also auch in den Buch-Beginn hinein, versprach uns darinnen exotische Welten in ungewöhnlicher Sprache zu finden, die voller Gefahren, hervorgerufen durch ein "Geheimnize", geschrieben von einem "Mir", zugleich eine Reflektion des Schreibens sein könnte. Eine durchaus anspruchsvolle Erwartungshaltung also, geweckt durch wenige Sätze, deren altertümliche Anleihen und hohe Künstlichkeit sofort durch die Ankündigung einer "orientalischen Humoreske" zudem noch ins Reich der Märchen, Sagen und Fabeln verweisen. All diese Erwartungen werden in diesem, mit Sicherheit extravagantesten Buch unseres vergangenen Lesejahres, vollständig erfüllt, doch kommen während der Lektüre immer noch neue Schichten hinzu, die auch Türen genannt werden könnten, die sich zu unterschiedlichen Räumen auftun oder als versprachlichte Teile dieser russischen Holzfigürchen, in denen sich immer weitere, kleinere Figürchen finden, gelesen werden dürfen. Das Buch ist komplex, wie man sieht, das Staunen hält den Leser / die Leserin während der Lektüre durchgehend wach, da gespannt auf neue, frappierende Entdeckungen oder Überraschungen lauernd: "Nun, es ist nicht mehr angebracht Freud zu diskutieren. Hier denken wir uns eine Gschycht auf der Basis einer uralten Äsop-Fabel aus, und breiten unsere Phantasie-Schwingen zu einer grossangelegten Intrige, zum Mechanema unseren Romans aus." (S. 60)
Worum nun also geht es in dieser "Gschycht"? Um viel, entfährt es nun unwillkürlich der Redaktion und nein, das Buch zerfasert dennoch nicht, es besticht in seiner Vielschichtigkeit, seinem Humor, seiner Melancholie und führt durch die Groteske der Verwaltungs-Maschinerie eines Landes, um in der Klarheit der gemarterten Seele des IT-Ingenieurs John Matarishvan ein vorläufig jähes Ende zu finden.
"Dieser Entwicklungsroman ist so etwas Absurdes, etwas, das man nicht vom Ende her denken kann, weil man weiss ja noch nicht, wie es ausgeht. Mir versuchen in unserem poetischen Denk-Experiment nachzustellen, welche Bedingungen herrschen müssen, damit eine Parallelwelt entstehen kann, in der jede Form von menschlicher Bösartigkeit möglich, und als normal gesehen wird." (S. 7)
Dass diese "Parallelwelt" samt ihrer "Kunstfiguren", trotz der grotesken Überformung, auf gespenstische Weise immer mehr unserer nur allzu bekannten, verdrängten oder längst hingenommenen Gegenwarts-Welt gleicht, ist alleine schon hinreißendes Zeugnis des Könnens von Sebastian Schinnerl. Robert Walser, aber auch Sokolow, scheinen dem Autor zu winken, der dann auf seine Weise zurückwinkt, indem er literarische Traditionen durch den Blick in realistische IT-Welten aufbricht. 
Ganz bezaubernd sind die mit "Lucie" überschriebenen Kapitel, in denen dem Ingenieur John auch ein wenig Privates gegönnt wird. "Wie ich nach Hause kam, schwebte Lucie wie ein durchsichtiges Seidentuch durch den Garten." (S. 190)
Diese Passagen sind von fulminanter Schönheit und Poesie und bilden einen sehr warmen Gegenton zu der Groteske eines vertuschten Korruptions-Skandals in der "Volksrepublik Tùùrgistan".
Vieles wäre noch zu sagen, doch das würde die Kapazitäten unseres Blogs sprengen.
Man lese das Buch und vergewissere sich seiner literarischen Einzigartigkeit selbst!

"Der Teufel ist ein Whistleblower I" ist der Auftakt zu einer Trilogie, Band II bereits erhältlich, Band III wird in Kürze folgen. Wir werden sie sicher allesamt lesen.
Am Ende dieser (nur eine lange Notiz gebliebenen) "Rezension", sei darauf verwiesen, dass Sebastian Schinnerl bereits 2 Romane im renommierten Residenz-Verlag veröffentlicht hat. 


Nachtrag zu Bd. II:
Die oben skizzierten Themen um den IT-Ingenieur John Matarishvan, der im Fantasiestaat "Tùùrgistan" auf einen Vertuschungs-Skandal der Verwaltung stößt und diesen (dummerweise?) pflichtgemäß meldet, werden zunehmend zu einer beklemmenden Studie über menschliche Abgründe, die Kälte eines "funktionierenden" Machtapparats, in dessen Klauen geraten, das Zerbrechen des tapferen John fast zu befürchten scheint, gegen das dieser anzukämpfen versucht und schließlich im ominösen "Mir" den Autor zu seinem "dystopischen Happy Roman" findet. Die Komplexität des Buchs wird fortgeschrieben, Sebastian Schinnerl schafft in Bd. II eine weitere Vertiefung und kreiert eine Spannung, die den Lesern einiges abverlangt. Großartig!

Nachtrag zu Bd. III:
Der gute John wendet sich von der quälenden Korruptionsmaschinerie seines Amts ab und begibt sich auf Reisen. Sein fernes Ziel ist erstaunlicherweise die Schweiz, der er sich über die Türkei nähert. Sein Wunsch: "Eine vollkommen reine Liebe" zu finden und zu leben. Das ominöse "Mir" löst sich in Bd. III in den "Mann" auf, der als Autor ("Weltschriftsteller") an diesem "universalen" Liebesroman bastelt, von seiner Lebensgefährtin "Anna" liebevoll unterstützt wird, dennoch wie sein "Held John" an Welt und erlebtem Traumata leidend. Sebastian Schinnerl beweist auch in diesem 3. Buch zur Trilogie sein  weites, verspieltes, literarisches Können, leichte Zweifel beschlichen die Chefredakteurin angesichts ausufernd geschilderter Begeisterung über eine Vielzahl an bezaubernd aussehenden Damen in transparenten Kleidchen: "John ist recht schnell in der Lust. Sonne. Wind. Nacktheit. Schon lässt ihn seine Sinnlichkeit wenig Bewegungsraum." (S. 162) Die gewohnte Komplexität verliert sich hier (auch in Bezügen zum politischen Weltgeschehen) ein wenig durch den Griff in Klischees hinein. Das Ende allerdings versöhnt, die Begegnung des Autoren-Paars mit den Roman-Figuren gelingt wunderbar verschlungen und mit gewohnter, tiefgründiger Leichtigkeit!

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