Kapitel No. 3
Gustav Klimt |
III
Und dieses Heute ist dieser Morgen, ein Morgen, an dem sie, die
Eine und nicht die Andere, mit einem Gedicht-Titel hinter der Stirn
erwacht, den sie heute Abend schreiben wird: „TickTack-TakTik“! Sie
räkelt sich und sie streckt sich und wirft alles Böse mit dem
Schütteln der Haare hinter sich und gibt ihm, ihrem noch
schlafenden Mann, einen Kuss auf die unbedeckte, muskulöse
Männerschulter. Ich glaube, nun fängt es langsam an, sich
auszuzahlen, flüstert sie in dieser Stimmlage, die gemeinhin als
„verschwörerisch“ bezeichnet wird. Ticktack, die Uhr tickt für sie.
Heute Morgen tickt die Uhr für sie, also einige Wochen, nach
diesem Tag vor zweieinhalb Jahren, an dem sie alles satt gewesen
ist. Die Uhr tickt jetzt. In diesem Moment. Ticktackticktackticktack!
Nur für sie tickt die Uhr. Nur für sie beginnt eine neue Zeit. Nur für sie arbeitet die Zeit. Ab Jetzt. Mit diesem Augenblick. Heute fängt
Alles an. Ab Heute zahlt es sich aus. Das fühlt sie. Das spürt sie. Und
dafür gibt es nun auch Beweise. Beweise, die sich zunächst, wie eine
Ahnung nur, in ihr Dasein geschlichen haben. Beweise, die immer
deutlicher, zu klaren Hinweisen werden. Und Beweise, die nun
summa summarum als Beweise Hinweise sind, dass die
Zeitenwende Einkehr hält, in ihr Sein und sich alles lohnen wird. Die
Zeit der Armut flieht vor einer Zeit, die noch nicht golden genannt
werden darf, aber Hoffnung in sich trägt. Hoffnung auf Geld.
Hoffnung auf Mehr. Hoffnung auf Genug. Wenigstens. Wenn nicht
noch Mehr. Diese Hoffnung trägt sie bereits seit einem Jahr, vor
diesem Tag, vor zweieinhalb Jahren, durch die Zeit. Trägt sie über
Klippen und Qualen. Und trägt den Mann, den noch immer
Schlafenden, geduldig mit. Nun scheint es so weit zu sein. Nun gibt
es Beweise. Ticktack im neuen Takt! Endlich zahlt es sich aus. Das
Leben, das sie so satt ist, wird ein Leichtes sein. Zumindest: Das
Leben, das sie so satt ist, wird leichter sein. Der schlafende Mann
bewegt fahrig, wie ein Sterbender, seine Hände diffus in Richtung
seiner nackten Schulter und fuchtelt ihre Küsse davon. Hinweg,
hinweg, ihr Plagen des Morgens, ich will noch Schlaf! Ja, schlaf du
nur, oh, schlaf du noch, mein Du, mein Alles, mein Sein! Singt ihre
Seele dazu und mit einem Lächeln auf den noch ungeschminkten
Lippen, erhebt sich ihr ephebenhaft schlanker Körper, aus den nach
Nacht riechenden Kissen. Ihre Füße schweben über die derben
Dielen, als seien es die Füße einer Botticelli-Nymphe. Im Bad
streifen ihre Augen das blaue Handtuch, die blaue Zahnbürste, den
Flakon mit After Shave. Er wohnt bei ihr. Heute, an diesem Tag. Also
Jetzt. Also für immer. Er wohnt bei ihr, seit einem halben Jahr, vor
diesem Tag, vor zweieinhalb Jahren. An diesem Tag, einem bestimmten Tag, vor diesem Tag, vor zweieinhalb Jahren, ist er zu
ihr gekommen. Er ist gekommen und er ist geblieben. An diesem
einen, bestimmten Tag hat er gesagt, ich bleibe. An diesem Tag ist
er geblieben. An diesem Tag hat er seine Wohnung gekündigt. Seit
diesem Tag ist er für Immer bei ihr. Zwei Wochen vor diesem Tag, ist
sie in diese Wohnung gezogen. Altbau. Zwei Zimmer. Badewanne.
Also Luxus! An diesem Tag hat sie nur gehofft und noch nicht
gewusst. An diesem Tag hat sie eine größere Wohnung riskiert. In
der Hoffnung, dass dieser Tag kommt, an dem die Uhr anders tickt
und es sich auszahlen wird. Und Heute ist das Hoffen Gewissheit. Es
gibt Beweise. Die Uhr tickt für sie. Es lohnt. Sie sitzt nun
erwartungsvoll am Küchentisch, der Kaffee duftet, die Zigarette
brennt. Frühstück. Ihre kupferrot gefärbten Locken umrahmen wild
ihr Gesicht. Sie ist dem Kuss entstiegen. Dem Kuss von Klimt. Ihren
weißen Körper hat sie in eine schwarze Hose aus Samt, ein blaues
Shirt und ein schwarzes Jäckchen, wie ein Wams, so ein Jäckchen,
gesteckt. Ihre Standart-Kleidung ist das. Sie liebt sie. Sie liebt sich
darin. La Boheme. Sie hat drei Jäckchen, wie ein Wams, aus
schwarzem Samt und drei Hosen, fließend und weit, aus Samt in
schwarz. Und Blusen und Shirts und Schals und Tücher, in satten
Farben und Stiefeletten, in schwarz. Das reicht! Das ist sie! Das ist
richtig! Das wird auch so bleiben! Denkt sie. In diesem Moment,
also Jetzt. Es soll leichter werden. Der Rest soll so bleiben. Wie
Heute. Also Jetzt. Also immer. Ein für alle Mal. Und so sitzt sie an
diesem Morgen, also Heute, am Küchentisch, trinkt ihren Kaffee mit
Milch und Zucker und zieht genüsslich an der Zigarette. Sie zieht an
der Zigarette, weil Anspannung ihr Leben begleitet. Seit langem
schon. Lange vor diesem Tag, vor zweieinhalb Jahren, hat sie dieses
Gefühl erstmals als Anspannung bezeichnet und lange davor, genau so gefühlt. Die Gründe für dieses Grundgefühl sind vielseitig und
jährlich differierend. Heute ist es die Anspannung aus reiner
Nervosität heraus. Nervosität, vor all dem, was der Tag mit sich
bringen wird. Ob auch Heute, an diesem Tag, Beweise zu erkennen
sein werden. Beweise dafür, dass sich die Mühen auszuzahlen
beginnen. Noch sind die Beweise zu spärlich gewesen, wenngleich
unübersehbar. Aber doch eben zu unzuverlässig, um ihr das
Grundgefühl der Anspannung wirklich austreiben zu können. So
zündet sie sich also erneut eine Zigarette an und lässt einen
weiteren Kaffee mit Crema aus der Kaffeepad-Maschine in die Tasse
spritzen. Ja, eine silberfarbene Kaffeepad-Maschine gehört seit
einer Woche, nach jenem Tag, vor zweieinhalb Jahren, zu ihrem
Leben. Die Pad-Maschine zeugt vom Wandel der Zeiten. Von der
fleckigen Filter-Maschine hin zum Luxus aus Küchen-Design. Luise,
das brauchen wir nicht unbedingt! Das hatte ihr Mann, ihr noch
schlafendes Du, in ihr vor Aufregung gerötetes Ohr gestöhnt. Oh
doch, Lars Dietrich, hatte sie geantwortet, das haben nun wirklich
mittlerweile Alle! Alle und ein Jeder hatten Pad-Maschinen, die
funkelten, um die Wette mit ihrer Konkurrenz funkelten, aus deren
diversen Röhrchen und Schläuchen es sprudelte und schäumte und
spritzte, dass es eine morgendliche Wonne war. Der Kaffee hat
immer geschmeckt, sagt Lars Dietrich, ihr noch schlafender Mann,
gerade in seinem Traum zu sich selbst. In seinem Halbschlaf- oder
Halbwach-Traum. Zarter und doch starker Kaffee-Duft mit sinnlicher
Note, hat seine sensiblen Nasenflügel vibrieren gemacht, Heute, an
diesem Morgen. Nun ruft ihn der Geruch in den Tag hinein. Der
nicht ihm, sondern ihr gehören soll. Ihr! Nicht ihm! Noch eine Prise
Schlaf! Seufzt die Männerbrust. Eine Männerbrust, die auf ihren
Wunsch hin, ihren eindringlichen Wunsch wohlgemerkt, unrasiert und somit beflust, dem Tag, die verletzbare Blöße präsentiert. Sie
liebt diese Männerbrust. Diese Brust, nicht allein, aber auch, ist es,
die ihr das Gefühl seiner vermeintlichen Stärke, in nahezu jedem
Augenblick ihres gemeinsamen Lebens, vermittelt. Eine Brust wie
Keine! Denkt sie. Das denkt sie immer, nur nicht dann, wenn sie
einen dieser Tage hat, an dem sie alles satt ist. An diesem Morgen,
also Heute, ist dieser Überdruss ganz tief drinnen versteckt. Aber
nicht spürbar. Nicht Heute, an diesem Morgen, also Jetzt. Wo alles
so bleiben soll, für immer, wie es immer gewesen ist, seit dem Tag,
an dem Lars Dietrich gesagt hat: Ich bleibe. Heute. Für immer. Drei
Jahre vor diesem Tag, vor zweieinhalb Jahren, also Heute, hat sie ihn
kennen gelernt. Der Arbeitsplatz ist in der Hierarchie der möglichen
Anbahnungsstätten ganz oben. Platz Eins oder so. Das weiß sie
inzwischen. Und so haben auch sie Beide sich an ihrem Arbeitsplatz
kennen gelernt. Es hat halt einfach sofort Zack gemacht, sagt ihr
Mann Heute. Ja, denkt sie, es hat Zack gemacht und dann ging es
doch zunächst einmal sehr schleppend weiter. Aber immerhin, es
hat ja bei Beiden Zack gemacht. Damals. An ihrem Arbeitsplatz.
Einer Kleinkunstbühne in Neukölln. Damals fing es gerade an, dass
die Gentrifizierung auch an diesem Bezirk nicht spurlos vorüberging.
Und so kam es, dass an diesem Abend, drei Jahre vor diesem Tag,
vor zweieinhalb Jahren, also Heute, ein Kabarettist auf dieser
Spielstätte präsentiert wurde. Einer, der bereits in nobleren
Bezirken und größeren Bühnen, seinen politisch unkorrekten Humor
in den Äther, über den Köpfen des durchweg amüsierten Publikums,
entließ. Und sie ist an diesem Abend von ihrer Zeitung und er ist von
seiner Zeitung geschickt worden. Weil sie Beide, für ihre jeweilige
Zeitung, im Feuilleton als freie Mitarbeiter geschrieben haben und
natürlich Beide auch so gut wie nichts damit verdienen konnten. Aber die Ehre! Die ist ja bis Heute, also Heute, nicht zu verachten!
Und so hat es dann Zack gemacht, bei ihnen Beiden. Und sie war
sehr schnell eine, mit weißer Haut und roten Haaren, Liebende und
er war sehr lange schweißgebadet vor Angst. Oha, hat er sich
gesagt. Die will mich ganz. Und deshalb ging es, in dieser
mehrjährigen Anfangsphase, doch recht betulich zu. Oder genauer,
nicht betulich, wenn es zu einem Treffen gekommen ist. Aber
betulich, bis es zu einem Treffen kam. Lars Dietrich hatte einfach
viel zu viel um die Ohren. Viel zu viel. Das hat er Heute auch. Also
jetzt, an diesem Morgen, wenige Wochen nach jenem Tag, vor
zweieinhalb Jahren. Viel um die Ohren. Denn in ihm hämmert noch
immer die Vertonung von „Küsse auf der Haut“! Und sie erwartet
nicht, dass er wach ist, bevor sie sich in ihr Arbeitszimmer an einem,
mittlerweile imposanten, Schreibtisch platziert hat. Ohne Zigarette
immerhin. Denn wenn die Arbeit ruft, raucht sie nicht! So viel
Respekt muss sein! Sagt sie sich. Und sie meint es auch so, wie sie es
sich sagt. So viel Respekt muss sein. Und dann geht es los. Richtig
los gegangen ist es vor einem Jahr, vor diesem Tag, vor zweieinhalb
Jahren. Da hat sie sich gesagt, Ende Neu, alles auf Schluss und Alles
auf Anfang. Schluss ist die Zeitung gewesen. Nein, nicht mehr
schreiben für 50 Euro. Ein Artikel, Recherche, Außendienst,
Interview, Spesen, Fahrzeit inklusive, wohlgemerkt, mittlerweile
wäre noch das Foto mit der Digi-Cam als all-inclusive-Paket
erwünscht gewesen. Und sie hat Nein gesagt! Nein! Genug der
Ehre! Ich verhungere! Und mit Lars Dietrich geht es auch nicht
weiter! Ich muss was Neues probieren! Und so hat sie probiert. Und
langsam zahlt es sich aus. Heute gibt es jedenfalls Beweise. So
einige Beweise dafür! Und Lars Dietrich wohnt auch bei ihr! Ja, es
geht bergauf! Und so wartet sie auf das, was heute kommen könnte. Wartet, dass ihr Telefon bimmelt, wartet, dass sich die
Beweise mehren. Sie muss heute nicht lange warten. Es bimmelt
und bimmelt und bimmelt ohne Unterlass. Und dennoch liegt der
Beweis in ihrem Fall, und das ist das Faktum, das sie mit Stolz erfüllt
und als Beweis wertet, nicht in erster Linie in der Quantität. Nein, es
liegt in der Qualität. Im Anrufer selbst, sozusagen. Und der hat
Niveau. Oder Geld. Oder Beides. Oder nur Geld. Aber Qualität.
Lebensqualität. Oder auch nicht. Und dann gibt es sie. Und sie ist ein
Teil des Luxus von einem Anderen. Das ist neu für sie. Das macht sie
neugierig. Und hoffnungsvoll! Lars Dietrich wird vom Mittag
geweckt. Er stöhnt nun nicht mehr, Weg frei, Küche frei, Bad frei! Er
ist der Künstler. Er ist der genialische Part einer funktionablen
Einheit. Er darf sein! Darf so sein, wie er ist! Du bist genau so richtig,
wie Du bist! Hat sie zu ihm gesagt, an vielen Tagen, vor und nach
diesem Tag, vor zweieinhalb Jahren. Also auch Heute. So sein. Wie.
Du. Bist. So-Sein. Existenz. Reines Sein. Kamasutra. Rauf und Runter.
Tantra auch. Lars Dietrich eben! Alles gut! Für ihn. Für sie. Für
Heute. Sie ist beschäftigt, am heutigen Tag. Er darf sich
beschäftigen, wie sein Metier das von ihm verlangt. Er ist Musiker.
Klavier, Gitarre, Akkordeon und Saxophon. Und Poet ist er auch.
Poet und Musiker. Richtig fein mit Hochschule. Ein ganz Begabter.
Ein ganz Besonderer. So sensibel. So melodisch. So metaphorisch.
So melancholisch. So mutwillig. Findet Luise. Lars Dietrich ist
manchmal solo unterwegs. Und Lars Dietrich ist manchmal als Lars
und Lars unterwegs. Je nachdem. Mal so, mal so. Mal mehr, mal
weniger. Je nach Umstand. Und die Umstände sind nicht gut. Lars ist
der beste Freund von Lars Dietrich. Mein wahrer Bruder des
Herzens. Sagt er. Lars Dietrich ist der Schöne von Beiden. Schwarze,
gelglatte Haare, manchmal aufgemaltes Clark Gable-Bärtchen, hochgewachsen. Ein Mann wie ein Mann. Mit haselnussbraunen
Augen. Er trägt Anzüge, Hut und bunte Hemden. Er ist eloquent,
humorvoll und gebildet. Ein elegant schlenderndes Bühnentier.
Wenn er auf die Bühne darf. Wenn nicht, ist er das auch. Ohne
Bühne. Ein Dichter, Denker und Musiker eben. Lars dagegen ist nicht
schön. Dünn, klein, straßenköterbraune Haare ohne Frisur. Graue
Augen. Zynischer Mund. Auf Letzteren ist er sehr stolz. Ein gewisser
Zug um den Mund, gibt ihm etwas Sezierendes, Brisantes und
Intellektuelles. Er spielt Klavier und singt, beziehungsweise rezitiert,
in sonderbarem Stakkato, seine Betroffenheitslyrik. Ja, es sind
Lieder, die betroffen machen und Alle und Jeden betreffen. Songs
über Natur, das Gemeine in der Gesellschaft und das Böse im
Menschen. Zur Auflockerung gibt es dann Lars Dietrich. Und wenn
Lars solo unterwegs ist, dann gibt es seine Erfindung und Spezialität:
Den Raver-Step. Step-Tanz zu stampfenden Tönen, mit Lars
zuckenden Gliedern. Das ist very hyper! Sagt Luise. Luise ist Lars ein
Dorn im Auge. Ein Dorn im Fleische ist er auch. Und ein Dorn im
Herzen der Dame. Lars Dietrich ist ihr Mann. Und Lars ignoriert das.
Seine Freundschaft nimmt Lars Dietrich in Besitz. Seine
Freundschaft tut Lars Dietrich nicht gut! So denkt sie. Lars Dietrich
ist in dieser Hinsicht naiv! Denkt sie auch. Lars Dietrich sieht in
seiner Freundschaft zu Lars ein Geschenk. Ein großes, schönes
Geschenk. Ein einzigartiges Geschenk des Himmels. Eine Quelle der
Inspiration und gegenseitigen Befruchtung. Eine schier grenzenlos
scheinende Bereicherung durch viele, wunderbare, gemeinsame
Künstler-Jahre hindurch. Lars und Lars sind unzertrennlich. Zwei, die
sich herrlich ergänzen. Zwei, die unterschiedlicher nicht sein
könnten. Zwei, die eine Einheit sind. Und Luise weiß an dieser Stelle
argumentativ nicht weiter. Muss ein Mann, fragt sie sich, nicht genau so über seine Frau sprechen? Und an dieser Stelle des
Gedankenkreisels, will sie dann nicht mehr weiterdenken. Sie muss
akzeptieren. Alles ist, wie es ist! Und was ist, ist nie Zufall! Und so
ist, was ist, immer gut! So weiß sie inzwischen. So weiß sie, seit sie
ihre künstlerischen Ambitionen weitestgehend an Lars Dietrich
delegiert hat. So weiß sie, seit sie als Life-Coach arbeitet. So weiß
sie, seit sie sich in diversen Instituten der Heilpraktischen
Psychotherapie und Instituten der Esoterik weiterbildet. So weiß sie
nun. Also auch Heute. Wenige Wochen, nach jenem Tag, vor
zweieinhalb Jahren. Also Jetzt. In diesem Moment. Hypnospeak.
Jaha! Sie liebt neuerdings Hypnospeak und freut sich daran, Lars
und Lars damit zu necken. Zu nerven. Zu provozieren. Tut es! Jetzt!
In diesem Moment! Flüstert sie über den Köpfen der Männer. Ohne
Ortungsmöglichkeit ist diese Stimme. Sich tief in die Seele und ins
Unterbewusstsein fräsend. Gegenwehr gibt es nicht. Das zur Stimme
gewordene Weib zeigt seine Macht. Tut es! Jetzt! Oder nie, nie
mehr! Und dann stimmt sie ihr gurrendes Lachen an und die
Männer fühlen sich furchtbar! Furchtbar durchschaut! Und
furchtbar gedemütigt! Jetzt! Oder Nie! So waren sie nicht. So sind
sie nicht. So werden sie nicht. Sie sind nicht absolut. Wie Luise. Sie
sind nicht ambitioniert. Wie Luise. Sie sind nur Genies. Um den
Lorbeer geht es nicht. Und so haben sie Zeit. Viel, viel Zeit. Jetzt
oder Nie! Dazwischen liegt ihr Leben. Dazwischen liegt ihre Zeit!
Und die verbringen die Männer sehr, sehr gerne gemeinsam. Und
Luise ist ja beschäftigt. Sehr beschäftigt. Nur nicht mit sich selbst.
Aber mit Lars Dietrich. Und mit vielen Anderen. Mit Klagenden, mit
Jammernden, mit Verlassenen, mit Liebeskranken, mit Müttern, mit
Vätern, mit Ehebrechern, mit Töchtern und mit Söhnen. Mit
Betrügern, mit Guten, mit Bösen, mit Verwirrten und mit Esoterikern. Stimmen am Telefon. Stimmen, die von einer
esoterischen Life-Coach-Line an sie vermittelt werden. Luise hat
inzwischen zu ihrem eigenen Beratungsstil gefunden. Und Luises
Beratungsstil hat sein Klientel gefunden. Luise hat sich
vorgenommen: Egal was passiert, was auch immer passieren mag,
ich bleibe seriös! Darauf ist sie stolz. Das ist sie sich und ihrem
Background schuldig. Sie bleibt seriös! Komme, was da solle! Und
das zahlt sich, nach anfänglichem Ringen und zäher Anlaufphase,
tatsächlich langsam aus. Das Klientel wird immer schöner. Das
Klientel wird immer reicher. Das Klientel kennt Qualität. Und
Qualität hat seinen Preis! Denkt die Luise und wird rot. Doch auch
hier geht sie über sittlich vertretbare Grenzen nicht hinaus. Auch
hier gilt: Seriosität ist Trumpf! Und so ist sie zwar nur ein Insider-Tip,
aber immerhin eben ein Top-Tip! Ticktack-Taktik! Luise berät
ausschließlich ganzheitlich. Luise berät psychologisch fundiert. Und
Luise berät lebensnah. Und Luise berät mit Hingabe. So wie Luise
mit Hingabe Lars-Dietrich liebt. Lars Dietrich findet Luise zu seriös.
Lars und Lars stecken die Köpfe zusammen, gerade jetzt wieder, in
diesem Moment und finden: Die ist zu billig! So reicht das nie! Denn
Lars Dietrich telefoniert jetzt auch. Mit Lars. Den er in einer Stunde
zu treffen gedenkt. Wir müssen mal wieder ausgiebig brainstormen!
So raunt er in Richtung Luisens. Die fuchtelt ihn mit der Hand aus
dem Büro, ihrer Beratungszentrale. Jetzt nicht. Nicht in diesem
Moment. Ein wichtiger Klient erwartet Konzentration. Heißt das.
Lars Dietrich haucht Küsse zu Luises rotem Schopf. 4 Töne!
Aufsteigende Töne! Absteigende Töne! Schwebend! Wie Küsse! Auf
der Haut! Auf Deiner Haut! Seine haselnussbraunen Augen
bekommen ein Glimmen wie Wolfsaugen. I love You, Luise! Ich liebe
Dich, Weib! Und verschwunden ist er aus Luises Blickfeld. Diese lächelt in den Telefonhörer hinein. Es zahlt sich aus. Alles zahlt sich
aus. Sie liebt ihren liebenden Mann. Ach, herrlich ist das Sein. Und
dann hört sie, wie die Tür ins Schloss gezogen wird. Achtsam, aber
ungestüm. Also polternd laut. Nun wird in den nächsten Stunden
niemand mehr die Konzentration stören, die den Kunden geschuldet
ist. Klienten nennt Luise die Kunden. Seriös! Top-Seriös! Das ist die
Devise. Komme, was da wolle. Heute, Morgen und Übermorgen.
Und dann kommt, Heute, also einige Wochen nach jenem Tag, vor
zweieinhalb Jahren, sie, die Andere. Sie, die Mörderin eines
Täuberichs. Sie, die ihre Autonomie plant. Sie, die einen Neuanfang
wünscht. Sie, die weiß, dass sie wünscht, aber nicht wirklich weiß,
was das ist, das sie wünscht. Sie, die Andere, kommt mit einem
Klingeln zu Luise, das Penetranz vermuten lässt. Es ist das zweite
Telefon, das da klingelt. Das private Telefon ist es und nicht das
offizielle Telefon, das von der Line gespeist wird. Die Privatnummer
kennen nur einige, wenige, exklusiv von Luise auserkorene Klienten.
Nur die dürfen hier klingeln. Nur denen gewährt Luise Privat-Audienz. Insider-Tip! Top-Tip! Und wie es klingelt. Es klingelt und
klingelt, obwohl sie den Hörer nicht erreichen kann, weil sie noch an
die zweite, die offizielle Leitung gefesselt ist.
Kliiiingkliiiingklaaaaang! Endlich verstummt der Gesprächspartner
beratungsgesättigt im Off. Luise eilt geschwind, den sich
überschlagenden Klingeltönen, entgegen. Minimal genervt von dem
fordernden Läuten, nennt sie ihren Namen. Wer will da was von ihr?
Sie hat doch keinen privaten Termin vereinbar! Kein Hinweis findet
sich im Kalender, auf den sie sinnend einen Blick wirft. Derweilen kitzelt ein leises Schnäuzen ihr Ohr.
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