Wo aber Gefahr ist...

 ...wächst das Rettende auch?




Friedrich Hölderlin,
 Pastell v. F. K. Hiemer

Doch, doch. Alles passt gut zusammen: 
Die graue Plörre am Himmel über Berlin. Der Blick aus dem Küchenfenster auf die riesenhaft-kahle Hinterhof-Kastanie, in der eine Krähe schimpfend und flatternd um Halt ringt. Und die Kerze auf dem Frühstücks-Tisch, die ihr trautes Licht im flüssigen Wachs absaufen lässt. 
Dabei sagt man doch so leichthin:
".„Wenn Du denkst es geht nichts mehr. Kommt irgendwo ein Lichtlein her!“ 

Nun ja, es steht heute Morgen gar nicht so schlimm um mich. Aber eben doch auch irgendwie nicht gut. Gewissermaßen ist die Situation bedrängend, bedrückend und durchaus prekär. Dazu habe ich jetzt, in diesem Augenblick, natürlich auch noch HÖLDERLIN in meinem Schädel, der in seinem hohen Ton des lyrischen Genius das wahrlich geflügelte Wort erfand:
 "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“! 
Da ist in 2020 nicht mehr nur Hölderlin, sondern seine gesamte Lobby am Werk gewesen, seine Vermarkter sozusagen, weil doch das Hölderlin-Jahr begangen sein wollte. Und dann wurde dieses 2020, das des Genius Namen hätte erneut in die Welt tragen sollen, sehr dreist von einem gewissen Virus gekapert, um den sich inzwischen nahezu alles dreht. 

Noch befinde ich mich in diesem profan-beängstigenden Corona-Jahr, es ist Jahresende, genau gesagt der elfte Dezember und die Rettung zu dieser Gefahr ist auch schon irgendwie um eine Ecke gebogen: Impfstoff heißt sie, die Rettung. 
IMPFSTOFF.
Alle jubeln diesem Impfstoff entgegen. 
"Doch im Finstern wohnen die Adler". 
Soll heißen, noch bin ich nicht geimpft. Die Gefahr dieses neuen Virus ist nicht nur seit einem Jahr da (und um mich herum), sie kann mich auch noch auf der letzten Strecke treffen. Ganz kurz vor dem Ziel (namens Rettung durch Impfung)! 
Und ich rede hier nur über diese eine, konkrete Gefahr called CORONA. Dieser zurzeit penetrant gegenwärtigen Gefahr, auf deren Rettungs-Möglichkeiten (der Menschheit Rettung, so will es fast scheinen) zu warten ist.
"Oh Fittiche gib uns, treuesten Sinns, hinüberzugehn und wiederzukehrn“. 

Die Meisten hoffen: Alles zurück. Alles auf vorher. 
Zurück ins „Vor“ dieser vermaledeiten, dröhnend-drohenden Gefahr des Corona-Virus.

 Alles auf Anfang also! Ach, das wäre herrlich.
Dieser Anfang einer Stunde Null sozusagen. Am besten gleich den großen Reset-Knopf drücken dürfen, zum „Vor“ des Verzehrs eines gewissen Apfels. Damals. Im Paradies. Der Apfel ist längst gegessen. Und der Apfel ist auch lange vergessen. Romantiker können noch so sehr nach dem Ur-Zustand der Harmonie im goldenen Schnitt rufen. Kein Mensch mit Grips im Hirn wird Glauben schenken! Der Zustand vor Corona war schon lange vergiftetes "Dämmern im Zwielicht" der Menschheit.
Die Sonne strahlt ungehindert in ihrer porentiefen Erwärmung, "der schattenlosen Straßen" ging ich längst genug. Das Brathendl im Sinn, in "der großen Seele, ruhigahnend den Tod".
Fleischproduktion auf Null oder aseptisch ohne Tier, das lebendig. Hier tobt das Virus. Aber die gute, alte Fleischproduktion auf immer möglich, wenn wir den Impfstoff (die Rettung) haben?
Was also ist „Rettung“? Für wen, wann und aus welcher Perspektive? Mir schmerzt der Kopf. Der Kaffee tut nicht wirklich sein hilfreiches Werk.
 Heute, hier, Ende 2020 in Berlin!
Was, wenn die Rettung außerhalb Meiner, außerhalb der Menschheit läge.
Oder nur in mir. Oder nur in mir und meinen Lieben. Was dann, liebe Welt?

„Das Haus und die Wetter Gottes“ rollen „ferndonnernd über die ahnenden Häupter“, die nun „schwersinnend versammelt“ sind. Merkel, so höre ich im Morgenradio, steckt mit Ihren Weisen samt Drosten die Köpfe zusammen und sucht nach Rettung. Ich nippe weiter- mit bleischwerem Arm - an meinem grauen Milch-Kaffee. Vor mir ein weißes Papier, das die Gefahren nun in schwärzestem Tinten-Nass aufsaugen und in Rettung transzendieren soll.
 Oha und oho! 

Hoffentlich haben wir (habe ich) von der Gefahr nicht ein Zuviel an Rettung erhofft!
Die größte Gefahr meines heutigen Morgens: Apathie, Lethargie, Gottergebenheit. Gottergebenheit mit und ohne Gott, wohlgemerkt!
Das Blatt Papier ist bis hierher noch gar nicht gefragt worden.
 Es gibt keine Demokratie unter dem Leben mit den Dingen! 
Wäre dieses Blatt vor mir auf der Tischplatte nicht doch vermutlich lieber aus dem Holz nachhaltig an- und abgebauter Hölzer gebastelt, denn aus dem Regenwald stammend? 
Ist seine Rettung und die seiner Herkunft bereits vertan? Der Regenwald ist abgebrannt, habe ich kürzlich gehört und gelesen, aber ich kostete damals, also an diesem Morgen vor 4 Tagen, an einem Kaffee aus Nicaragua und dachte, ich wähle demnächst GRÜN, dann sind wir vielleicht ALLE auf einmal wieder der Rettung nahe. Und dann summte dies Lied in mir:
 "Maikäfer flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommerland. Und Pommerland ist abgebrannt...."

Meine heutige Nacht ist eine Gute gewesen, zu "wohnen in liebender Nacht" ist dieser Tage ein Geschenk und ich erinnere mich meines Traums sehr genau. Ein Koala nahm mich in seinen Beutel und dankte mit Stofftieraugen für seine Rettung durch Menschenhand. Und "nichts ein Übel ist", dachte ich im Traum, "denn göttliches Werk gleichet dem unsrigen". Wir wissen es (was?) nicht besser und der Höchste weiß es auch nicht, zumal der Gott spätestens mit Camus abgeschafft worden ist. Zumindest in literarischen Kreisen, in denen wir uns heute mit der Fragestellung nach „Wächst das Rettende auch?“ befinden und beschäftigen. 

Hölderlin hin und Hölderlin her. 

Und ohne jetzt abschweifen zu wollen, ich denke an diesem Morgen doch ein wenig darüber nach, welche unzähligen Rettungen aus widerlichen Gefahren heraus dieser Genius tatsächlich in seinem Leben kennengelernt hat (und wie viele Gefahren ihm willkürlich widerfahren und rettungslos angetan wurden). NACH der großartigen "Patmos"-Erkenntnis, dass das Rettende wächst, wenn eine Gefahr etca.p.p.in der Nähe lauert, hatte er eigentlich nie mehr etwas zu lachen. So sagt man doch auch, wenn keine Rettung in Sicht. Es hätte auch bei ihm natürlich noch schändlicher kommen können, als es zunächst mit der Zwangsbehandlung in der Irrenanstalt geschehen ist und danach mit einer Dauerunterbringung im Hölderlin-Turm für ihn weiter ging. 

Aber RETTUNG?
Nun, Rettung scheint an dieser Stelle zumindest durchaus relativ gemeint zu sein!

 Natürlich, fast immer könnte es schlimmer noch kommen. Es gibt ja dieses ebenso populäre Wort von dem Glas, das je nach Betrachtung halb voll oder halb leer ist. Es gibt aber tatsächlich auch Gläser, die nur noch einen Tropfen Nass beherbergen. Der Dichter-Gott wurde zum wundersamen Vorzeige-Bär hinter den Mauern seiner neuen Heimat. Und zur Attraktion von Touristen. Damit also noch ein weiteres Mal zu einer Berühmtheit.
 Aber war das eine RETTUNG?
Es "gilt dann Menschliches unter Menschen nicht mehr".
Stattdessen nur noch das geflügelt Wort!
Immerhin hat 
Hölderlin die Prozeduren bis heute überlebt. In dieser, seiner Dichtung. Und ja, er hat physisch sogar lange durchgehalten. Ein stoisch Überlebender, sozusagen.
Ist Überleben immer Rettung?

 "Eilend geht es zu Ende": mit der Welt und ihrer Beschaffenheit. Der Kultur, der Kunst, der Humanität. Es ist eben immerfort das Gleiche. Der Gefahren gibt es Viele. Auf die Rettung gilt es als Überraschungs-Gast zu warten. 

Und doch sitze ich hier, an diesem wackligen Küchentisch, an diesem gruselig-grauen Morgen, an dem es mir nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut geht und zerbreche mir den Kopf darüber, was sich schreiben ließe, um die Rettung (als solche) rettend einzufangen (Hehe!). Ich erhoffe mir durchaus täglich irgendetwas als Rettung. Ich weiß aber auch: Meine Hoffnung ist nicht unbedingt meine Rettung. Vielleicht wird sie von mir hier gerade fürchterlich verwechselt. Und vielleicht wird die Hoffnung von Vielen viel zu oft mit Rettung verwechselt. Von Hölderlin selbst, ebenso wie von jedem Tag und jeder Stund in diesem einen Leben, das wir als Namensträger haben. "Eilend geht es zu Ende". Von Geburt an. Tag für Tag. Stund zu Stund. Minute zu Minute. In jeder Sekunde und Milli-Sekunde. 

Das Grau des morgendlichen Himmels des heutigen Tags simuliert die Summe aller Möglichkeiten in dem Spektrum von wolkenweiß über himmelblau bis donnerschwarz. Und wenn "die Himmlischen jetzt mich lieben", dann geben sie mir einen klaren Kopf, der etwas Sinnvolles zum  Kaffee – der da vor mir steht - aufs Papier kritzeln lässt. Irgendwas in den Farben der Rettung, bitte schön! Doch fürchterlich "still ist sein" (des Himmels über Berlin) "Zeichen", am bald zerberstenden Firmament. 

Was ist denn der Mensch und was bin ich, wenn nicht tagein, stündlich, minütlich und sekündlich in dieses Etwas zwischen Gefahr und Rettung geworfen? Ich weiß akut und ganz konkret, in diesen unseren Zeiten von Corona, nicht wirklich, wie ich die Miete bezahlen soll und wie es weitergeht, im tosenden Grau der hetzenden Menschheit. Diesem Grau, das aus allen möglichen Farben besteht und dessen Anfang und Ende zwischen weiß und schwarz gezeichnet wird. "Die Taten der Erde bis itzt, ein unaufhaltsamer Wettlauf." (Zu lang, "zu lang schon, ist die Ehre der Himmlischen unsichtbar"). 

Spätestens mit Camus ist Gott gestorben. Die Rettung lag und liegt scheinbar im Nichts. Darin der Mensch heroisch waltet. Und ich setze in diesem Sinn den Stift an und schreibe meinen ersten Satz auf das vor mir liegende Papier. Und ich suche mit dieser Bewegung noch immer (und trotzdem) nach Etwas!

Es ist nun Mittag. Der Winter-Himmel über Berlin, er ist ebenso grau, wie es der Morgen-Himmel gewesen ist. Die elektrische Beleuchtung, Gott sei Dank, ist o.k.
Das, in der Berliner Luft liegende Thema, diese Frage nach der Rettung, nervt mich gewaltig.
Ganz wurst, ob von Hölderlin ins Spiel gebracht. Und egal auch, dass in 2020 sein Jubiläum zu feiern ist. 
Ein anderes Thema, als die Frage "wächst das Rettende auch?", wäre mir lieber gewesen. 
Aber das hilft ja nun nichts. Vielgesichtig ist die Gefahr. Und was sein muss, muss eben sein.
"Auf daß gepfleget werde, der feste Buchstab". Ich versuche es hiermit.

Darauf ein Hallelujah. 
Alles passt gut!

  



Der Text ist inspiriert durch den Literatur-Preis "wächst das Rettende auch" der "Akademie für gesprochenes Wort" in Cooperation mit "PEN-Zentrum Deutschland" --->HIER

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