Der wunderbare Buchanfang: XXXII. Teil

 

"Ein Buch, das nicht mit einem Paukenschlag anfängt, lese ich nicht!"
(Zitat von Paganini, dem Kater)


Die Paganini´s-Redaktion will sich dieser Polemik nicht zu Hundert Prozent anschließen.
Und doch bleibt es unbestreitbar: Die Verführungskraft der ersten Zeilen eines Buches entscheidet sehr wohl darüber, ob wir es tatsächlich zu Ende lesen, oder frühzeitig zur Seite legen.

Deshalb in loser Folge bei Paganini´s:
"Der wunderbare Buchanfang!"

Heute ein Buch, das von einer Schönheit ist, die nicht von dieser Welt zu sein scheint:


Cees Nooteboom, "Abschied"
(Gedicht aus der Zeit des Virus)


1

Dies fragte sich der Mann
im Wintergarten,
das Ende vom Ende, was könnte das
sein?
Etwas ganz ohne Kummer, dachte er
sich,
er schaute hinaus, sah eine Wolke, die
aussah

wie eine Wolke, bleigrau, zu schwer
für jede
Waage ...

I

Dit  froeg de man in de wintertuin zich
af,
het einde van het einde, wat kon dat
zijn?
Het leek hem geen enkele vorm van
verdriet,
hij keek naar buiten, zag een wolk die
er uit

zag als een wolk, loodgrijs, te zwaar
voor
elke weegschaal ...



Pati, das Katerchen, präsentiert "Abschied"


Nein, wir können kein Niederländisch. Und nach dem Kauf von "Abschied", diesem kostbaren Lang-Gedicht von Cees Nooteboom, seiner neuesten Publikation also, wollte uns ein inneres Teufelchen einreden, das Buch hätte doch, zum halben Preis und ohne diese Zweisprachigkeit, vollkommen genügt, um zu beglücken. Das wäre dann der goldene Preis-Leistungs-Schnitt gewesen, sozusagen. So dachten wir einen Augenblick nur, den wir nun verwünschen. Und für den wir uns bitter schämen. 

Denn nach der ersten Lektüre, auf deutsch verschlungen, werden wir nicht müde, das Original laut und leise in uns hinein oder vor uns her zu lesen. Endlich, endlich  hören wir den Klang, den Rhythmus, die Melodie des Gedichts, so wie es vom Dichter gedacht und ersonnen, zu Papier gebracht worden ist.

Und ja, auch wenn man, wie wir, kein Niederländisch spricht und auch keines versteht, so glaubt man dann im Lesen, das zuvor (und seit jeher kongenial) von Ard Posthuma in deutsches Wort Übertragene, hätte auf einmal Flügel bekommen. So dass ganz von alleine (einfach kraft des Dichters Kunst) das tiefe Verstehen (auch und gerade) in jener "exotischen"  Ur-Sprache, mit uns wäre.

"Und da erkannten wir die Feinheiten der Übersetzung. Und da erkannten wir die Feinheiten des besonderen Cees-Nooteboom-Klangs ..." (Boncuk, der Kater, vollkommen beseelt, in der Redaktionskonferenz.)

Ach, nun genug der Schwärmerei über den Suhrkamp-Druck in zweierlei Variante.

Hin zum Text, der wahrlich den plakativ angekündigten Untertitel "aus der Zeit des Virus" nicht nötig hat. 

"Die Toten suchen ein Haus". So hieß Nootebooms 1. Gedichtband. Es folgten "Kalte Gedichte" und "Schwarze Gedichte". Es braucht nicht das Virus, um nach dem "Ende vom Ende" zu fragen. Corona gibt darauf keine Antwort. Das Ende vom Ende ist seit jeher Gewissheit.

"Beginnt hier das Jenseits?"
Das liest Nooteboom (angeblich) als Poster auf einer menschenleeren Straße in Zeiten des Lockdowns.
Die Leere der Straße. Diese Frage. Gemalt auf einer Häuserwand. 
Die Atmosphäre von Vakuum.
Alles wirkt, wie Alles IMMER auf Nooteboom wirkt:
Anregend!

In "Abschied" geht es nicht um Corona, sondern es geht um Leben und Tod.
Und dem Tod kommt Nooteboom, mit seinen mittlerweile 88 Jahren, nahe. 
Er bereitet sich vor. Und er hat sich zeitlebens vorbereitet.

"Jetzt ist Stille
der Rest der Strecke,
ohne Erinnerung
kein Leben."

Der Autor wird vor unseren Augen, im Gedicht, 
transparent und löst sich (schreibend) auf.

Er vergeht und wird neu. Zum "Niemand".
Hier zunächst als Dichter.

Und das ist - da niedergeschrieben - ein großes Geschenk!


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