Menschenlichter im Tollhaus:
Variation zu Protokoll VI!
Das Haus
Eine Frau und ein Mann in einem
Haus.
„Das Haus hält mich fest!“
Das sagt er, wenn er gefragt
wird. Das sagt sie, wenn sie gefragt wird.
Die Frau und der Mann haben vor
25 Jahren geheiratet.
„Er war meine große Liebe!“, sagt
sie.
„Es ist meine Frau!“, sagt er und
zuckt mit den Schultern.
Die Frau zieht nicht aus dem Haus
aus und sie wird auch nie daraus ausziehen.
Hier wohnt ihr Leben, hier war
sie schwanger, hier zog sie ihre Tochter groß.
Er wird das Haus nie mehr
verlassen. Wohin sollte er auch ziehen.
Das hat er beschlossen, nachdem er den beschriebenen Zettel auf dem Küchentisch vorgefunden hat:
Das hat er beschlossen, nachdem er den beschriebenen Zettel auf dem Küchentisch vorgefunden hat:
„Mein Anwalt und ich bitten Dich,
das Haus binnen dreier Monate zu verlassen. Ich werde Dir sofort Deine Hälfte
des Hauses ausbezahlen!“
„Du störst mich nicht!“, hat er
als Antwort auf die Rückseite des
Briefes geschrieben.
Der Satz hat sie ins Mark
verletzt.
„Du störst mich nicht!“
Nun, so hat sich die Frau
anschließend geschworen, lässt sie sich von ihm nie mehr verletzen.
„Ich habe den längeren Atem!“,
sagt sie sich Tag für Tag und sagt das auch zu ihrer Tochter.
Die Tochter trifft sich
abwechselnd mit der Mutter oder mit dem Vater in einem abseits vom Haus
gelegenen Cafe in der Stadt. Die Tochter trifft sich immer seltener mit der
Mutter:
„Ich verstehe nicht, wie Du so grausam zu ihm sein kannst!“, sagt sie zur Mutter.
„Ich verstehe nicht, wie Du so grausam zu ihm sein kannst!“, sagt sie zur Mutter.
Noch seltener allerdings trifft
sich die Tochter mittlerweile mit dem Vater.
Sie erträgt es nicht, seiner „Verwahrlosung“, wie sie es nennt, zuzuschauen.
Sie erträgt es nicht, seiner „Verwahrlosung“, wie sie es nennt, zuzuschauen.
„Wo nur noch Kälte wohnt“, sagt
die Frau mit erstaunter Stimme „da gibt es keine Grausamkeit!“. Sie versucht
nicht, sich der Tochter gegenüber zu rechtfertigen. Die Frau rechtfertigt sich
nicht, weil sich das im Haus abspielt, was sich da abspielt. Es gibt kein Zurück, die Fronten haben sich erst verhärtet
und sind dann zu einem neuen, gewohnten Leben geworden, das zu Eis
erstarrt ist.
Die Frau hat vor der Heirat
Germanistik studiert und der Mann Romanistik. Sie arbeiteten in der
Volkshochschule als Fachbereichsleiter. Hier haben sie sich kennen- und
liebengelernt.
Die Frau ist noch immer von
fragiler Statur, fein geschnittenes Gesicht, sehr gepflegt, das blonde Haar
streng aus dem Gesicht zum Zopf zurückgekämmt.
„Sie sieht aus wie eine
Tänzerin“, dachte er sich, als er sie zum ersten Mal gesehen hat.
Er war eine weitaus kräftigere
Erscheinung, vital, schwarzhaarig, charmant und ungestüm.
Die Anziehung zwischen den Beiden
war sofort sehr stark. Es tat für beide nichts zur Sache, dass die Frau zwölf
Jahre älter ist.
„Ich war die Ältere, die Schönere und die Reichere“, sagt sie heute.
Noch immer hält sie ihren Rücken sehr gerade, etwas Nervöses und Zuckendes beherrscht immer wieder minutenlang ihre Mimik. Ansonsten ist sie eine schöne, ältere Frau, die noch immer auffällt, ohne viel Aufhebens um sich machen zu müssen.
„Ich war die Ältere, die Schönere und die Reichere“, sagt sie heute.
Noch immer hält sie ihren Rücken sehr gerade, etwas Nervöses und Zuckendes beherrscht immer wieder minutenlang ihre Mimik. Ansonsten ist sie eine schöne, ältere Frau, die noch immer auffällt, ohne viel Aufhebens um sich machen zu müssen.
Der Mann ist in den letzten fünf
Jahren zunehmend abgemagert. Seine Haltung
ist nicht mehr lässig, wie einst, sondern gebeugt. Sein Schritt ist
meist schlurfend, stolpernd fast. Er trinkt immer mehr.
„Die ersten siebzehn Ehejahre
waren gute Jahre!“
Das sagt die Frau zu sich selbst,
zu ihren Freunden und zu ihrer Tochter.
Die Frau hat nach drei Jahren ihren Beruf aufgegeben und sich um das Haus, die Tochter und den Mann gekümmert. Sie hat Klavier gespielt und ihrer Tochter selbst das Klavier spielen beigebracht. Noch immer gibt sie ab und an Klavierunterricht. Wenn die Töne der Musik heute aus dem oberen Stockwerk, in dem sie wohnt, zu ihm herunterwehen, hat er sich meist mit einem Kasten Bier in seinem Zimmer eingeschlossen. Er hat die Angewohnheit entwickelt, jede einzelne leere Flasche in die Küche zurückzutragen. Da stehen sie aufgereiht auf dem Küchentisch, bis die Frau sie vor seine Zimmertür räumt, damit er sie zurück in den leeren Bierkasten stellen kann. Mittlerweile ist dieses Ritual so ziemlich der einzige Berührungspunkt zwischen den Beiden geworden.
Die Frau hat nach drei Jahren ihren Beruf aufgegeben und sich um das Haus, die Tochter und den Mann gekümmert. Sie hat Klavier gespielt und ihrer Tochter selbst das Klavier spielen beigebracht. Noch immer gibt sie ab und an Klavierunterricht. Wenn die Töne der Musik heute aus dem oberen Stockwerk, in dem sie wohnt, zu ihm herunterwehen, hat er sich meist mit einem Kasten Bier in seinem Zimmer eingeschlossen. Er hat die Angewohnheit entwickelt, jede einzelne leere Flasche in die Küche zurückzutragen. Da stehen sie aufgereiht auf dem Küchentisch, bis die Frau sie vor seine Zimmertür räumt, damit er sie zurück in den leeren Bierkasten stellen kann. Mittlerweile ist dieses Ritual so ziemlich der einzige Berührungspunkt zwischen den Beiden geworden.
„Ich rege mich einfach nicht mehr
über seine Rücksichtslosigkeit auf!“, sagt sie.
Er arbeitet noch immer in der
Volkshochschule.
Früher hat er gerne dort
gearbeitet. Er hat sein Haus, seine Frau und seine Tochter geliebt.
„Dann ist er verrückt geworden
und hat alles zerstört!“, sagt sie.
„Dann hatte ich alles satt und
habe mich verliebt!“, sagt er.
Seine Frau hat nicht sofort
gemerkt, dass sie betrogen wird. Ihr ist nur aufgefallen, dass er länger in der
Volkshochschule blieb, an einigen Wochenenden die Kurse persönlich inspizierte
und öfter pfeifend mit offenem Hemd durchs Haus spazierte. Dann pflückte er für
seine Frau Sträuße wilder Blumen und flüsterte ihr seine Liebe ins Ohr. Sie
dachte, ein leicht eingeschlafenes Glück sei zu ihnen zurückgekehrt.
Heute versteht die Frau nicht
mehr, dass sie nicht sofort misstrauisch
geworden ist.
„Ich habe ihn nicht gekannt“,
sagt sie.
Sie hatte sich sicher gefühlt in
ihrer Liebe, in ihrer Familie, eingerahmt
durch das Haus.
Erst als er eines Tages mit einem
Hut auf dem Kopf nach Hause kam wusste sie Bescheid.
„Er kauft sich nicht alleine
einen Hut!“
Der Gedanke durchfuhr sie als
eine erschütternde Erkenntnis, die nicht mehr von ihrer Seite wich. Der Gedanke
nahm ihr den Atem.
„In diesem Moment bin ich zum
ersten Mal in meinem Leben gestorben“, sagt sie heute manchmal zu ihrer
Tochter. Die Tochter weigert sich stets, die Schilderung der Mutter über deren
etappenreiches Sterben zu hören.
„Er hat dich nicht getötet“, sagt
sie zu ihrer Mutter.
„Du lebst und er tötet sich
tagein, tagaus vor deinen Augen!“
Die Frau liebt ihre Tochter.
Deshalb nickt sie am Ende dieser Gespräche. Die Frau weiß, dass die Tochter
nicht verstehen kann, dass der Mann sie der Fähigkeit zum Mitleid beraubt hat.
Die Frau versteht das alles selber nicht. Sie weiß, dass der Mann leidet. Sie
weiß, dass sie einst gelitten hat. Jetzt
fühlt sie nicht mehr, was es heißt zu leiden.
„Ich musste über eine Grenze
hinausgehen“, denkt sie oft
„und auf einmal wurde alles
kalt“.
„Außer einem Staunen ist mir von
meiner Ehe nichts geblieben“, hat sie einmal an einen Freund geschrieben.
Dieser Freund hatte gehofft ihr eine Rettung sein zu können.
„Wovor willst du mich retten?“,
hat die Frau ihn gefragt. Er hat diesen Satz nicht begriffen.
Als der Mann mit der schwarzen
Melone auf dem Kopf nach Hause kam –
später als Morgens beim Frühstück freudestrahlend angekündigt – fiel der Frau
ein Feuerzeug aus der Hand. Sie ließ es liegen. Kurz wurde sie von der Angst
gewürgt, dass ein Laut in ihrer Kehle aufsteigen würde, der dem lang gezogenen
Jaulen eines Hundes gleichen könnte. In diesem Moment also starb sie ihren
ersten Tod. Der Mann nahm den Hut vom Kopf, drehte ihn in den Händen und zuckte
mit den Schultern.
Sein Lächeln war noch schuldfrei aber verlegen.
Sein Lächeln war noch schuldfrei aber verlegen.
„Ich wollte immer genau diesen
Hut!“, sagte er.
„Lass uns Morgen darüber reden“, erwiderte die Frau.
Dieser Satz war es, der den Mann verstummen ließ. Er wusste nun, dass seine Frau alles zu wissen schien. Der Mann kennt seine Frau. Er weiß ihre Nuancen zu deuten. An diesem Abend fühlte er zum ersten Mal seine Schuld, die in der Möglichkeit bestand, dass er seine Frau verletzen könnte. Die Frau verbrachte diese Nacht im Gästezimmer. Sie erinnert sich heute nicht mehr daran, ob sie schlafen konnte oder ob sie wach gelegen ist.
„Lass uns Morgen darüber reden“, erwiderte die Frau.
Dieser Satz war es, der den Mann verstummen ließ. Er wusste nun, dass seine Frau alles zu wissen schien. Der Mann kennt seine Frau. Er weiß ihre Nuancen zu deuten. An diesem Abend fühlte er zum ersten Mal seine Schuld, die in der Möglichkeit bestand, dass er seine Frau verletzen könnte. Die Frau verbrachte diese Nacht im Gästezimmer. Sie erinnert sich heute nicht mehr daran, ob sie schlafen konnte oder ob sie wach gelegen ist.
„Er ist in diesem Haus und nicht
bei ihr!“
Das ist der einzige Gedanke gewesen, an den sie sich erinnern kann.
Das ist der einzige Gedanke gewesen, an den sie sich erinnern kann.
Am kommenden Morgen haben die
Beiden zunächst kein Wort gewechselt. Die Frau hatte noch den Frühstückstisch
gedeckt. Sie hat das getan, weil sie es immer so getan hat in diesem Haus. Die
Frau hat sich dann mit ihrem Kaffee erneut in das Gästezimmer zurückgezogen.
Bevor der Mann zur Arbeit gegangen ist, hat er an ihrer Tür geklopft.
„Wir reden später“, hat sie durch
die geschlossene Tür zu ihm gesagt. Der Mann hat ihre Stimme kaum erkannt.
„Es ist nicht, wie Du jetzt
denkst“, hat er geantwortet und mit dem Handballen an die Tür geschlagen.
„Als wäre er es, der wütend sein
dürfe“, berichtete die Frau später über diesen Moment. Dann ist der Mann zu
seinem Büro gefahren. Den Hut hat er an der Garderobe hängen lassen.
„Das Etikett in dem Hut ist mir
nicht bekannt gewesen“, hat die Frau später zu ihrer Tochter gesagt.
„Er hat mir nie erzählt, dass er
so einen Hut möchte“.
An diesem Tag hat sie die Fenster
geputzt, das Bad geschrubbt und die Bettwäsche gewechselt. Sie ist zum Großkauf
gefahren und hat die Vorratskammer gefüllt.
Die Tochter hat zu dieser Zeit
ein Austauschjahr in London verlebt.
„Das ist das Glück im Unglück
gewesen“, sagt die Frau noch heute zu ihrer Tochter. Der Mann ist pünktlich
nach Hause gekommen. Der Schlüssel ist ihm aus der Hand gefallen, als er die
Haustür aufschließen wollte. Als die Frau gehört hat, dass ihr Mann nach Hause
kommt, ist sie zur Tür gelaufen und hat sie geöffnet.
„Er hat so erschreckend fremd
ausgesehen“, sagte sie später zu einer Freundin. Der Mann hat seine Frau zur
Seite geschoben und sich an ihr vorbei gedrückt. Er ist im Mantel in das
Wohnzimmer gelaufen. Da hat er auf der Couch gesessen. Sein Oberkörper hat
gezuckt, die Hände hatte er vor das Gesicht geschlagen. Die Frau konnte nicht erkennen, ob er weint oder vor
Schmerzen schreien möchte.
„Er hat mich so sehr erschreckt“, sagt sie
heute.
Die Frau hat einen Tee vor ihn hingestellt. Sie hat sich auf den Sessel ihm gegenüber gesetzt.
Sie hat ihm zugesehen und sich dann zusammengerissen.
Die Frau hat einen Tee vor ihn hingestellt. Sie hat sich auf den Sessel ihm gegenüber gesetzt.
Sie hat ihm zugesehen und sich dann zusammengerissen.
„Erkläre mir bitte, was in dir
vorgeht“, hat sie den Mann gefragt. Der Mann hat mit dem Kopf geschüttelt. Als
er die Hände vom Gesicht weggenommen hat, war diese Leere in seinem Gesicht.
Die Frau hatte diese Leere noch nie zuvor an ihm wahrgenommen.
„Sag Du mir, was in dich gefahren ist“, sagte er zu der Frau.
„Das ist seine Taktik gewesen“,
hat die Frau später berichtet.
„Er hat einfach den Spieß umgedreht und versucht, alle Verantwortung von sich zu weisen“. Sie ist aufgestanden und zur Garderobe gelaufen und kam mit dem Hut zurück.
„Er hat einfach den Spieß umgedreht und versucht, alle Verantwortung von sich zu weisen“. Sie ist aufgestanden und zur Garderobe gelaufen und kam mit dem Hut zurück.
„Ach, der Hut?“, lächelte er.
Sein Lächeln versickerte in seinem bleichen, angespannten Gesicht.
„Ja, der Hut“, sagte die Frau. „Der Hut und Sie!“
„Ja, der Hut“, sagte die Frau. „Der Hut und Sie!“
Der Mann sah in den Augen seiner
Frau den Ernst. Er hat nur zögerlich angefangen zu berichten.
Es sei „nichts
Wichtiges…..Herrgott, ja, eine Affäre….nach all den Jahren…..bis dahin war ich
Dir immer treu…versteh doch…!“ und die Frau hat zugehört. Die Frau hatte ihre
Hände gefaltet vor sich auf den Tisch gelegt. Ihre Haltung war ihm zugeneigt,
sie schaute abwechselnd in sein Gesicht und auf ihre Hände. Manchmal
verkrampften sich die Hände so stark ineinander, dass die Fingerknöchel
blauweiß angelaufen sind.
“Wie alt ist sie?“
Sie stellte diese Frage in einer
kurzen Pause seiner Schilderung eines hübschen, sexuellen Abenteuers ohne Bedeutung
für ihn und seine Ehe.
Er sagte, dass das nichts zur
Sache täte. Sie beugte den Oberkörper so stark nach vorne, dass ihr Kopf fast auf den verschlungenen Händen zum Ruhen
kam.
Der Mann hat gewusst, dass seine
Frau nicht Ruhe geben würde, bis sie dieses Detail erfahren hatte. Er weiß
auch, dass sie spüren würde, wenn er ihr nicht die Wahrheit sagen würde.
“Sie ist fünfundzwanzig“, sagte
er. Sein Ton ist beiläufig gewesen. Die Frau ist von ihrem Sitz hochgesprungen
und hat ihm eine Ohrfeige gegeben.
“Du ekelst mich“, hat sie in sein
Ohr geschrieen und das Teeglas mit der rechten Hand vom Tisch gefegt. Als es
aufschlug, gab es einen klirrenden Ton von sich. Beide schienen gleichzeitig zu
erwachen, als hätten sie die Szene, die vorhergegangen war, nur in einem Film
miterlebt.
Die Frau ist in die Küche
gelaufen und hat einen kleinen Besen und eine Schaufel geholt und sich
niedergekniet und die Scherben beseitigt.
“Das macht doch wirklich nichts“,
hat er gesagt.
“Das macht doch nichts“ und diese
Worte immer und immer wiederholt, als seien sie ein Mantra.
“Nein, es ist nicht so schlimm“,
hat sie gesagt, “ich hab´s gleich wieder“.
Am nächsten Tag hat sie darüber
nachgedacht, dass die zerbrochene Tasse noch aus ihrem Elternhaus gestammt hat.
“Auch das noch“, hat sie gestöhnt. “Auch das noch!“
Doch zuvor und nach der Ohrfeige
wurde nur noch das Notwendigste gesprochen.
„Wir sind wie lauernde Katzen
umeinander geschlichen, aber wir sind höflich zueinander gewesen“, hat die Frau
später zu ihrer Tochter gesagt.
„Das waren noch Zeiten“, denkt
sie heute. „Das waren noch Zeiten jenseits der Hölle!“
Die Frau hat in den folgenden
Nächten nach dem Geständnis Ihres Mannes im Gästezimmer geschlafen. Sie hat ihn
nicht berührt und sie ist auch vom Mann nicht berührt worden. Am fünften Tag
haben einmal die Finger des Mannes zufällig über die Handfläche der Frau
gestrichen, als sie gemeinsam, schweigend und höflich, den Abendbrottisch
gedeckt haben. Die Frau hat sofort die Hand weggezogen. Er hatte seither Morgen
für Morgen den Hut an der Garderobe hängen lassen. Er ist Abend für Abend
pünktlich nach Hause gekommen. Er hat in keiner Nacht an der Tür der Frau
geklopft.
„Er ist in jener Zeit brav
gewesen und ich habe das mit Höflichkeit erwidert“, sagt die Frau heute.
Als der Mann spürte, dass die
Frau ihm bei seiner leichten Berührung die Hand fortgenommen hat, wurde er
wütend.
„Du leidest nicht!“, hat er zu
ihr gesagt.
„Ich bin derjenige, der leidet!“
Die Frau hat ihn angesehen. Sein Blick war ernst und ohne Hohn.
Die Frau hat sich hinsetzen
müssen.
„Was erwartest Du von mir?“, hat
sie ihn gefragt.
„Willst Du Verständnis?“ Die Frau
fing nun an, in sich hineinzukichern und bedeckte die Augen mit den Händen.
Und er hat angewidert „Ja!“
gesagt.
Und sie hat gesagt „Nein!“
„Dann eben nicht!“, hat der Mann
gebrüllt. Er ist zur Garderobe gelaufen und hat den Hut genommen. Die Frau hat
gehört, wie die Haustür zugeschlagen wurde und der Mann mit dem Auto
davongerast ist.
„Dann eben nicht!“, hat die Frau
gedacht.
„In mir ist alles ganz still
gewesen“, hat sie später zu ihrer Tochter gesagt.
Die Frau ist in das Badezimmer
gegangen. Sie hat sich vor den Spiegel gestellt. Sie hat sich mit Wattepads das
Gesicht abgeschminkt. Sie hat sich dabei beobachtet und sich prüfend in die
Augen gesehen.
„Auch gut!“, hat sie zu sich
gesagt.
Dann hat sich die Frau an die
weißen Kacheln der Wand gelehnt und ist langsam in die Hocke gegangen.
„Er ist jetzt mit ihr“, hat sie
sich gesagt und gewartet, was sie bei diesem Gedanken wohl fühlt. Die Frau ist
nach einer Weile der Erstarrung wieder aufgestanden, sie hat sich die Badewanne
gefüllt und hat sich ein Bad genommen.
„Ein albernes, kleines Lied hat in mir
gesungen“, erinnert sie sich noch heute.
„Voulez vous coucher avec moi!“
Die Frau ist in der Badewanne
gelegen und hat das Lied vor sich hingesummt. Dann ist sie aus der Wanne
gestiegen und hat sich den Bademantel angezogen. Sie ist ins Untergeschoss des
Hauses in ihr neues Rückzugszimmer gegangen. Dort hat sie hinter sich die
Zimmertür abgeschlossen. Sie hat sich an die Tür gelehnt und ist erneut an der
Tür hinuntergerutscht und in sich zusammengesunken.
„Ich bin erst eine Ewigkeit
später in mein Bett gekrochen“, hat sie später ihrer Tochter berichtet. Die
Frau weiß heute nicht mehr, ob sie in jener Nacht geschlafen hat oder ob sie
wach gelegen ist oder ob sie weiter dieses Lied vor sich hergesummt hat. In
jener Nacht also ist die Frau zum zweiten Mal gestorben.
Am nächsten Morgen hat die Frau
zum zweiten Mal den Frühstückstisch wie ein Automat gedeckt. Sie hat die
Kaffeemaschine angestellt. Sie hat zwei Gedecke aus der Vitrine genommen. Dann
hat sie sich einen Kaffee eingeschenkt und eine Zigarette angezündet. Die Frau
hat auf die Uhr gesehen. Sie hat sich noch eine Zigarette angezündet. Dann hat
sie das Gedeck, das für den Mann bestimmt gewesen ist, wieder zurückgestellt.
Danach ist die Frau ins Bad gegangen. Sie hat geduscht. Sie hat sich
geschminkt. Sie hat sich mit Bedacht gut angezogen.
„Ich träume das alles nur“, hat
sie gedacht.
„Irgendwie ist der Tag
vergangen“, hat die Frau später zu einer Freundin gesagt. „Ich habe viel
gelesen und ich habe viel Fernsehen gesehen“.
Die Frau hat gewartet.
Der Mann ist am Abend mit
Verspätung in das Haus gekommen.
Den Hut hat er nicht auf dem Kopf
getragen und er hat ihn auch nicht verlegen in den Händen gedreht. Der Mann ist
ohne den Hut nach Hause gekommen. Die Frau hat auf der Couch gesessen und ein
Buch gelesen.
Sie hat zur Begrüßung nicht den
Kopf gehoben. Der Mann ist sofort, noch im Mantel, zu der Frau ins Wohnzimmer
gelaufen
.
.
„Ich komme gleich zu Dir“, hat er
gesagt.
„Ich will erst duschen!“
Dann ist er die Treppe hinauf ins
Bad gelaufen.
„Ich weiß bis heute nicht“, hat
die Frau später einem Freund erzählt, „ob er mich mit diesem Satz provozieren
wollte, oder ob ich es als Höflichkeit verstehen sollte“.
Als der Mann zu seiner Frau
zurückgekommen ist, hat er über das ganze Gesicht gestrahlt. Die Frau hat nur kurz die Augen gehoben. Dann hat sie
weiter in ihrem Buch gelesen.
„Du siehst glücklich aus“, hat
sie zu ihm gesagt. „War es schön für Dich?“
„Ich liebe Dich“, hat der Mann
gesagt. „Ich liebe Dich!“
Die Frau hat das Buch zugeklappt.
„Danke“ hat sie gesagt, „meine
Nacht war auch entzückend!“
Der Mann hat seine Frau
angeschaut. Sein Blick ist auf ihrem Hals gelegen, hat ihre Augen gestreift und
blieb an ihren Händen kleben.
Die Frau hat die Hände aus seinem
Blickfeld gezogen, sich an den Hals gefasst und über das Haar gestrichen.
Dann hat der Mann angefangen zu weinen. Zuerst war es nur eine Träne, die über seine Wange
lief. Dann begann das ganze Gesicht zu zucken, als habe er epileptische
Krämpfe.
„Ich liebe Dich“, hörte sie ihn
stereotyp sagen.
„Ich liebe Dich!“
„Hör auf“, flüsterte die Frau.
Zuerst ist ihre Stimme erstaunt
und leise gewesen und dann immer lauter und immer noch lauter „ Hör doch
einfach auf!
Hör auf dir etwas vorzumachen“
schrie sie weiter. „Wenn du mich liebst, dann schlafe nicht mit dieser Nutte“.
Der Mann ist ruhiger geworden.
Seine Augen hielt er nun geschlossen.
„Wenn ich mit ihr schlafe“, hat
er gesagt, „schlafe ich auch mit Dir“.
„Oh“ sagte die Frau, „wie schön!“
Dann ist die Frau aufgestanden
und in ihr Zimmer gegangen. Sie hat
sich bekleidet auf ihr Bett fallen gelassen. Sie hat sich gestreichelt und sie
hat seinen Namen geflüstert und sie hat sich erinnert.
„Oh nein“ hat sie gedacht. „Oh
nein, wir schlafen nicht zu Dritt!“
Der Mann hat noch im Zimmer
gesessen. Er hat sich einen Cognac eingeschenkt. Er hat auf dem Handy eine SMS
empfangen. Er hat die SMS erwidert. Er hat sich noch einen Cognac eingeschenkt.
Und dann noch einen. Dann hat er an die Tür seiner Frau geklopft. Als sie keine
Antwort gegeben hat, hat er versucht, gegen die Tür zu treten.
„Du bist meine Frau“, hat er bei
jedem Tritt gesagt. Als er von der Tür zurückweichen musste, vor Erschöpfung
und plötzlicher Mutlosigkeit,
Da sprang die Tür einen Spalt
weit auf.
„Oh“, flüsterte der Mann. Er war
zu diesem Zeitpunkt sehr angetrunken.
„Oh, sie ist offen“. Er stieß die
Tür auf. Der Mann sah seine Frau lachend und glucksend auf dem Bett liegen und
sich vor Vergnügen winden.
„Ich dachte, nun bin ich verrückt
geworden“, sagte sie.
Die Nacht ist für den Mann und
die Frau lang geworden.
„Feuchte, verknotete, glückliche
Körper mit Seelen darin!“
So hätte der Mann diese
Liebesnacht in früheren Tagen der Frau am Frühstückstisch noch einmal aufs Brot
geschmiert. Und sie hätte dazu ihr unbestimmtes Lächeln gelächelt.
An diesem Morgen ist die Frau als
erste wach geworden. Sie hat sich aus der Umklammerung ihres Mannes gelöst und
ist hinauf ins Bad gegangen. Sie hat sich prüfend in die Augen geschaut.
„Ich habe schrecklich
ausgesehen“, hat sie später einer Freundin erzählt.
Aber diesen Satz hat sie mit
einem mädchenhaften Gekichere begleitet. An diesem Morgen war sie voll von der
Liebe zu ihrem Mann.
„Und voll von meinem Triumph“. So
schrieb sie in ihr Tagebuch. Der Mann und die Frau haben gemeinsam den
Frühstückstisch gedeckt und wechselseitig das Brot bestrichen und den Kaffee
eingeschenkt. Dann hat der Mann gefragt, ob er sich für einen Tag vom Job krank
melden solle.
„Oh Nein“, hat sie gesagt, „wir
reden später“.
„Natürlich“, hat er geantwortet.
Er ist ins Bad gegangen, er hat geduscht, er hat seiner Frau einen Kuss gegeben
und er ist wie jeden Morgen zur Arbeit gegangen.
„Ich habe versucht, mich den Tag
über zu sortieren“, hat die Frau später zu ihrer Tochter gesagt. Die Frau hat
überlegt, wie eine Frau in dieser Situation vorgehen solle.
„Ich muss ihn vor die Wahl
stellen“, hat sie zu sich gesagt und versucht
bis zum Abend standhaft zu bleiben.
Ihr Mann hatte am Abend
Konzertkarten in der Hand. Er hat seine Frau leidenschaftlich auf den Mund
geküsst Die Frau ist errötet und hat den
Kopf weggedreht.
„Wir müssen reden“, hat sie ihn
gebeten. „Ich habe heute nachgedacht“. „Natürlich“, hat der Mann gemurmelt. Er
ist im Bad verschwunden und erst nach einiger Zeit blass und übermüdet wirkend
zu seiner Frau ins Wohnzimmer gekommen. „Natürlich, meine Liebe“, hat er zu ihr
gesagt.
„Es ist ab heute vorbei mit dieser
anderen Frau“, hat sie gesagt. „Ja, es ist vorbei“, hat er gesagt. „Es ist
vorbei!“ „Hast Du es ihr gesagt?“, hat sie gefragt. Der Mann hat genickt.
„Ich habe ihr auf ihre sms heute
nicht mehr geantwortet“, hat er gesagt.
„Du sagst es ihr Morgen oder Du
rufst Sie heute noch an“, hat die Frau gesagt.
„Ja, ich rufe sie an“, hat der
Mann gesagt. Dann hat er einen Champagner aus dem Kühlschrank geholt, zwei
Gläser eingeschenkt und seiner Frau mit seinem Glas zugeprostet.
„Du rufst sie sofort an“, hat die
Frau zu dem Mann gesagt.
„Ja“, hat er gesagt. „Ja!“
Der Mann ist auf den Flur
hinausgegangen und die Frau hat ihn leise und eindringlich sprechen hören.
„Es macht doch keinen Sinn“, hat
sie ihn sprechen hören, ich werde meine
Familie nie aufgeben“, und all die Sätze, die ein verheirateter Mann einer
Geliebten in einem mittelmäßigen Fernsehfilm zu sagen pflegt.
„Ich habe seiner Entscheidung
nicht geglaubt“, hat die Frau gesagt. „Aber ich habe gewusst, dass er uns nicht
verlieren will“.
Als der Mann zu der Frau ins
Wohnzimmer gekommen ist, hat sie ihn prüfend angesehen. Der Mann hat mit den Schultern gezuckt
„Es ist vorbei!“, hat der Mann
gesagt.
„Es muss vorbei sein!“, hat seine
Frau gesagt.
„Ich bin da!“, hat der Mann
gesagt.
„Dann sei bei mir“, hat seine
Frau geantwortet. Sie hat ihm auf die Stirn getippt und mit dem Zeigefinger
sein Herz umkreist.
„Da drin sei nur bei mir! Hörst
Du?“
Der Mann hat ein wenig verlegen
gelächelt. Die Frau hat sich auf die Coach fallen lassen. Sie hat die Hände vor
das Gesicht geschlagen. Die Frau hat angefangen zu weinen und mit den Fäusten
schlug sie abwechselnd auf die Armlehne und auf ein Kissen. Der Mann stand
regungslos vor seiner Frau. Er stand wie erstarrt und hat sich gewundert, dass
er nichts bei diesem Anblick zu fühlen wusste. Der Mann hat gewartet, bis seine
Frau müde wurde und nur noch von einem leisen Weinen in den Schlaf getragen
wurde. Dann hat er vorsichtig seine Arme unter ihren Körper gleiten lassen, sie
an sich gepresst und die Treppe hoch getragen. Im gemeinsamen Schlafzimmer hat
er sie angezogen aufs Bett gelegt und sich an sie geschmiegt und ihre Hand
gehalten. So hat ein neuer Tag begonnen.
„Im Großen und Ganzen haben wir
unsere Ehe so weitergeführt, wie es uns zur Gewohnheit geworden war!“
Das hat die Frau in ihr Tagebuch
geschrieben.
„Nur dass die Sicherheit und
Selbstverständlichkeit in ein beängstigend trügerisches Licht getaucht war“.
Hin und wieder hat der Mann mit
der Frau über seine Zeit mit der jungen Frau berichtet. Er ist bedacht gewesen,
ihr dabei in die Augen zu schauen. Er hat das nur ungefragt und freiwillig
getan. Wenn die Frau ihn in der Folgezeit nach seinen Beweggründen gefragt hat,
scheu und zögerlich, hat der Mann die Frau in den Arm genommen oder er hat sie
geküsst oder er hat sie gestreichelt. Er hat dann stereotyp „es tut mir leid“
gemurmelt. Die Frau hat bald gewusst, dass er nur freiwillig reden wird und
eigentlich hat sie nicht viel von „diesem Flittchen“ hören wollen. Sie hat in
der Anfangszeit des Neubeginns sein Handy kontrolliert - heimlich natürlich -
und sie hat ihn häufiger als in der Zeit vor dieser Krise im Büro angerufen.
Die Frau hat dann gefragt, wann er nach Hause kommt und sie hat seinen
Stundenplan überprüft, um seinen tatsächlichen Dienstschluss recherchieren zu
können. Der Mann ist in den folgenden Monaten stets pünktlich in sein Haus
zurückgekehrt. Er hat der Frau kleine Geschenke mitgebracht und er hat
versucht, sie wie früher mit kleinen Slapsticks zum Lachen zu bringen. Der Mann
hat seiner Frau das Gefühl vermittelt nur sie zu lieben. Er hat das Handy
achtlos auf seinem Schreibtisch liegen lassen. Er hat ignoriert, wenn er die
Frau in den Taschen seines Mantels nach etwas suchen sah. Der Mann hat das
Misstrauen seiner Frau mit Geduld als Konsequenz seines Leichtsinns
hingenommen. Nach einem halben Jahr ist die Normalität in die Ehe
zurückgekehrt.
Nach einem Dreivierteljahr ist
die Frau zum dritten Mal gestorben.
„Als ich meinen Mann lachend und
Arm in Arm mit dieser jungen brünetten Frau gesehen habe, ist meine Ehe
zersprungen wie meine Seele“, hat sie später an einen Freund geschrieben.
Die Frau hat ihrer Tochter
gesagt, immer und immer wieder, dass „es ein sonniger Mittwoch gewesen ist, an
dem ich für meinen Mann einen Anzug in die Reinigung gebracht habe“.
Die Frau ist also mit dem Auto in
eine Einkaufsstrasse gefahren, in der sie auch noch den Frisör besucht hat. Sie
hat sich noch hellere Strähnchen einfärben lassen und die Haare mit einer
leichten Dauerwelle zu üppig aufspringenden Locken verwandeln lassen.
„Ich bin sehr gut gelaunt gewesen
an diesem Tag“, hat sie später ihrer Freundin erzählt. Die Frau ist also von
dem Frisör direkt zu einer Reinigung auf der anderen Straßenseite gelaufen und
als sie dabei war, die Strasse zu überqueren, hat sie ihren Mann gesehen. Die
Frau ist sofort wieder auf die andere Straßenseite zurückgekehrt.
„Gott sei Dank ist da gerade kein
Auto gefahren“, hat sie zu ihrer Tochter später gesagt. Dann stand sie starr
vor ihrem Frisörladen und hat den Mann
lachend eine andere Frau auf den Nacken küssen gesehen. Dann hat sie ihn aus
den Augen verloren. Die Frau hat ihren Wagenschlüssel gesucht und sie hat ihn
nicht gefunden. Die Frau hat mit dem Handy eine Taxi-Nummer gewählt und niemand
ist rangegangen. Die Frau hat die Hand gehoben und in ihre Locken gegriffen und
ein Taxi ist stehen geblieben.
Die Frau hat gesagt: „Fahren Sie bitte immer geradeaus “ und der Name der Straße des Hauses ist ihr nicht eingefallen. Die Frau hat eine Freundin angerufen und gefragt, wo sie wohne und die Freundin hat es dem Taxifahrer gesagt. Die Frau ist in ihrem Haus noch im Flur zusammengebrochen.
Die Frau hat gesagt: „Fahren Sie bitte immer geradeaus “ und der Name der Straße des Hauses ist ihr nicht eingefallen. Die Frau hat eine Freundin angerufen und gefragt, wo sie wohne und die Freundin hat es dem Taxifahrer gesagt. Die Frau ist in ihrem Haus noch im Flur zusammengebrochen.
Als sie erwacht ist, hat sie sich
am Boden entlang zum Kühlschrank in die Küche gerobbt und an der Milch
getrunken, wie eine Verhungernde. Sie hat sich vor den Kühlschrank gelegt und
gewartet, bis der Schwindel im Kopf nachlässt. Dann ist sie mit unsicherem Gang
in das Gästezimmer gegangen.
„Ich hab mich ins Zimmer
gehangelt immer an der Wand lang“, hat sie einer Freundin später hysterisch
lachend gesagt und hat sich dann auf das Bett fallen lassen.
Die Frau hat an diesem Tag nicht
auf ihren Mann gewartet. Sie ist in einen tiefen Schlaf gefallen. Als der Mann
am Abend in das Haus gekommen ist, hat er nicht sofort gemerkt, dass etwas
anders war, als all die Abende zuvor. Er hat erwartet, dass der Esstisch
bereits gedeckt worden ist und dass ihn der Duft des Abendessens aus der Küche
begrüßen würde. Da kein Geruch ihm verriet, welches Essen auf dem Tisch stehen
würde, nachdem er sich aus dem Mantel geschält und die Hände im Bad gewaschen
und das Haar einmal durchgekämmt hätte, wie es jeden Abend sein Ritual gewesen
ist, deshalb trieb es ihn noch im Mantel in die Küche hinein. In der Tür
stehend wunderte er sich, weil nichts im Entferntesten an ein Abendessen
erinnerte und weil er sah, dass die Tür des Kühlschrankes offen stand und davor
verschüttete Milch ein weißes Wasser gebildet hatte. Der Mann erstarrte, atmete
schwer und riss sich den Mantelkragen auf, um besser atmen zu können. Im
mittlerweile offen stehenden Mantel konnte er sich noch immer nicht aufraffen,
wohin ihn als nächstes seine Schritte tragen sollten, um die Lage tatsächlich
zu übersehen. Er starrte in die Milch-Lache und überdachte die Lage. Er hatte
keinen Fehler gemacht, so schien es ihm
und dennoch war ihm klar, dass seine Frau hier und in diesem Moment ein Signal
gesetzt hatte.
Langsam ging er zum Kühlschrank
und schloss die Tür. Dann wischte er mit einem in seiner Manteltasche
befindlichen Taschentuch die Milch penibel vom Boden. Das Taschentuch hat er
dann zusammengefaltet und zurück in die Manteltasche gesteckt. Dann hat er sich
mit der Hand den Schweiß von der Stirn gewischt und ist in den Flur
zurückgelaufen. Der Mann ist fast zurück auf Start an die Haustür gegangen, als
wolle er darauf warten, dass nun ein sanfter Essensgeruch seine Nase
umschmeicheln könnte, jetzt, wo er in der Küche die Spuren verwischt hatte. Er
hat sehr langsam und betont ordentlich seinen Mantel an die Garderobe gehängt
und dann hat er betont liebevoll den Namen seiner Frau gerufen. Da dem Mann
keiner geantwortet hat, ist er zunächst zum Wohnzimmer gelaufen und als er
seine Frau da nicht wie erwartet sitzen sah, beschleunigte er seine Schritte,
rief ihren Namen noch lauter und blieb schwer atmend vor dem Gästezimmer
stehen. Seine Hand hat gezittert, als er die Klinke der Tür heruntergedrückt
hat. Dann stand der Mann schwer atmend in der Tür zum Gästezimmer und seine
Frau lag derweil schwer atmend auf dem Gästebett.
„Geht es Dir schlecht?“, hat der
Mann seine Frau gefragt und sich über ihr Gesicht gebeugt. Die Frau hat da
gelegen wie eine Tote, ihre Hände lagen verkrampft auf dem Bauch verknotet, ihr
Gesicht glich einer Maske und der Mund war leicht geöffnet. Der Mann schauderte
zurück. Er dachte daran, wie er noch vor wenigen Stunden das Gesicht eines
lebendigen, prallen Lebens in seiner Hand gespürt hatte.
Und er dachte auch, wie angenehm
es vielleicht sein könnte, wenn hier eine Tote liegen würde, die ihn im
Weiteren nicht seiner Schuld anklagen werden würde. Und der Mann dachte auch,
dass er im Weiteren wohl am Tod seiner Frau schuldig wäre. Der Mann dachte in
wenigen Sekunden sehr viel und die Frau schlug mit einem Mal die Augen auf. Die
Frau blickte ihrem Mann ins Gesicht und der Mann sah, dass diese Augen wussten, was er in dem jungen
Gesicht gesehen hatte. Der Mann sah in die Augen seiner Frau und wusste wie
jedes Mal, wenn er sie sah, dass nur sie seine Frau sein könne. Die Frau aber
schloss ihre Augen sofort wieder und sagte:
„Ich will dich nicht sehen!“
Diesen Satz sagte sie wie ein
junges Mädchen, das auf Drogen ist. Der Mann hat mit den Schultern gezuckt und
das Zimmer verlassen. Die Frau hat sich ihrem Mann an diesem Abend nicht mehr
gezeigt. Er hat in der Küche nach einer Dose mit Gulaschsuppe gesucht und sie
erhitzt und seine Frau hat sich in ihrem neuen Zimmer eingeschlossen.
„Das Zimmer ist nur vorübergehend
mein Domizil gewesen“, hat Sie später einer Freundin gegenüber betont.
„Heute ist es das Zimmer meines
Mannes“.
In dieser Nacht allerdings hat es Ihr zum letzten Mal die Tür zum Schutz geboten.
In dieser Nacht allerdings hat es Ihr zum letzten Mal die Tür zum Schutz geboten.
Der Schutz wäre nicht notwendig
gewesen. Der Mann hat im Wohnzimmer gesessen und einen Cognac nach dem Nächsten
getrunken.
Er ist nicht vom Sofa
aufgestanden, um an der Tür der Frau zu klopfen. Der Mann hat in dieser Nacht
keine Freude an den Frauen gehabt. Er hatte vielmehr mit jedem Schluck, den er
von seinem Cognac nahm, das Gefühl, dass er als Mann auf weiter Flur allein
sein Leben zu bestehen habe. Dass ein Mann immer allein seien würde, mit sich
und seiner Seele, weil die Frauen nur ein Interesse hinter Ihrer Stirn
verbergen würden: Ihn einfangen zu wollen und in ewiger Unfreiheit ohne
Rücksicht auf seine wahren Bedürfnisse auslutschen zu wollen.
In dieser Nacht lag die Frau also
in ihre Kissen gepresst, kaum atmend und immerfort auf eventuell sich nähernde
Schritte Ihres Mannes lauschend. Und der Mann lag in dieser Nacht irgendwann
laut schnarchend auf dem Wohnzimmersofa. Als der Morgen die beiden weckte,
wussten sie beide auf unbestimmte weise, dass ein Kapitel ihres Lebens
unwiederbringlich vorbeigegangen sei, wie die ungeträumten Träume jener Nacht.
Die Frau hat an diesem Morgen
nicht den Frühstückstisch gedeckt und kein Kaffeeduft hat den Mann an diesem
Morgen begrüßt. Der Mann ist von seiner Frau nicht pünktlich zum Aufstehen wach
geküsst worden und er hat sich nicht rechtzeitig ein Butterbrot schmieren
können. Der Mann ist an diesem Morgen unrasiert und zu spät zur Arbeit
gekommen.
Die Frau hat bis zum Mittag auf
ihrem Bett gelegen. Dann ist sie in ihrem Morgenmantel durch das Haus gelaufen
und hat das Bettzeug des Ehebettes nach unten ins Gästezimmer getragen und das
Bettzeug des Gästebettes ins Schlafzimmer in der oberen Etage.
„Die Zimmer werden jetzt
getauscht“, hat sie dabei gedacht und sie hat sich an diesem Gedanken
festgehalten, wie zuvor am Zipfel eines Kopfkissens. Dann war es auch schon
wieder Abend und die Frau hat sich im Badezimmer eingeschlossen und entsetzt
ihr Gesicht mit den Fingerkuppen betastet.
„Alles in meinem Gesicht sieht
zerrissen aus“, hat sie später in ihrem
Tagebuch notiert.
Als der Mann am Abend nach Hause
gekommen ist - und er ist an diesem Tag betont pünktlich nach Hause gekommen -
hat er einen Zettel auf dem Küchentisch vorgefunden:
„Ich bewohne die obere Etage, geh
mir aus dem Weg, ich denke nach!“
Der Mann hat ein „O.K.“ unter den
Text gesetzt und sich kampflos und schulterzuckend dem Willen seiner Frau
angepasst.
Er ist auch manchmal gar nicht
mehr nach dem Büro in sein Haus zurückgekehrt. Seine Frau hat in der
Zwischenzeit viel und lange geschlafen und das Gefühl gehabt in einem ewigen Nebel gefangen zu sein. Am
zehnten Tag fühlte Sie einen schier unerträglichen Schmerz in ihrer Brust und
wankte ins Badezimmer. Sie hat sich kaltes Wasser übers Gesicht laufen lassen.
Sie hat dann ihre Fingerknöchel zur Faust geballt dreimal an die weißen Kacheln
geschlagen, mit einer Gewalt, die sie selbst erschreckt hat. Dann ist sie in
die Hocke gegangen und die Knöchel sind mit ihrem Gewicht an der Kachelwand
entlang schrubbend nach unten zum Boden gefolgt. Die Frau hat einen unendlich
in die Länge gezogenen Schrei von sich gegeben und dann gewimmert. Als sie sich
wieder erheben konnte, hat sie angefangen zu weinen. In den nächsten Tagen also
hat die Frau geweint. Am zehnten Tag nach diesem Zusammenbruch hat die Frau
ihren Anwalt kontaktiert.
Also hat der Mann nun den anderen Zettel auf dem Küchentisch
vorgefunden, auf dem stand, dass es erwünscht sei, dass er auszieht. Der Mann
hat mit den Schultern gezuckt und gesagt, „du störst mich nicht!“
Im Übrigen hat die Frau ihren
Mann gut gekannt. Sie wusste, dass er sich nicht von dem Haus und von ihr und
von seinem Leben darin verabschieden würde.
„Das ist mein Instinkt für meinen
Mann gewesen“, hat sie später ihrer Tochter gesagt.
Der Mann hat zu diesem Zeitpunkt jede
Rücksichtnahme auf die Gefühle seiner Frau fahren lassen. Er ist gekommen und
gegangen, wie er gewollt hat, und einmal hat er sogar seine junge Freundin ins
Haus gebracht. Die Frau hat in der oberen Etage Gelächter gehört und das
Klirren von Flaschen. Sie hat am nächsten Morgen ein Damenhöschen im
Besucher-WC in der unteren Etage gefunden.
Die Frau hat es gewaschen und
gebügelt auf den Küchentisch gelegt. Dazu hat sie einen Zettel an das Höschen
gepiekt, auf dem „Herzlich Willkommen“ stand.
„Ich weiß selbst nicht, was da in
mich gefahren war“, hat sie später einer Freundin erzählt. „Ich habe diese
Personen in der unteren Etage so unendlich verachtet, und ich wollte, dass sie
es wissen“.
So ähnlich ging es über ein
dreiviertel Jahr hindurch weiter und dann begann das letzte Kapitel der Ehe.
Der Mann ist eines Abends pünktlich von der Arbeit
gekommen. Er hat seinen verbeulten Hut an die Garderobe gehängt und dort nie
mehr heruntergenommen. Er hatte eine Tüte im Arm, die bei jeder Bewegung
geklirrt hat. Mit dieser Tüte hat er sich n die Küche gesetzt und den gesamten
Abend über getrunken. Am nächsten Tag standen die leeren Bierflaschen und
andere Spirituosen für die Frau sichtbar
in der Küche verteilt. Der Mann hat sich in der Volkshochschule krank gemeldet
und sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Die Frau hat die Flaschen entsorgt.
Die Frau wusste, dass der Mann
nun immer pünktlich nach Hause kommen würde. Die Frau hat nichts gespürt, außer
einer unendlichen Kälte.
„Wer das spürt, der weiß, dass er
über eine Grenze gegangen ist, von der er niemals zurückkomme kann“.
Das hat die Frau einem Freund
erzählt, der sie einmal hatte retten wollte.
„Nun ist es soweit“, hat die Frau
in ihrer Seele gespürt.
Der Mann hat sich indessen drei Abende hindurch betrunken.
Dann hat er sich geduscht und rasiert und frisch eingekleidet. Er hat in der
Küche gesessen, einen Kaffee nach dem Anderen getrunken und auf seine Frau
gewartet.
Die Frau ist um die Mittagsstunde
heruntergekommen, um ihr Essen zuzubereiten.
Der Mann hat die Zwiebeln
geschält, die sie aus dem Kühlschrank geholt hat und er hat die Karotten
gehackt. Die Frau hat ihn gewähren lassen.
„Was willst Du?“, hat sie
irgendwann gefragt.
„Lass uns neu anfangen“, hat er gesagt.
Die Frau hat ihm in die Augen
gesehen und mit den Schultern gezuckt.
„Du störst mich nicht!“, hat sie
gesagt
.
.
An diesem Tag und dem nächsten
hat der Mann und die Frau die Speise gemeinsam zubereitet und die Frau hat sie
dann alleine im Wohnzimmer gegessen.
Am vierten Tag hat der Mann im
Garten die Hecken geschnitten und als die Frau noch immer nicht den
Abendbrottisch auch für ihn gedeckt hat, ist er am fünften Tag wieder mit einer flaschengefüllten Tüte unterm Arm
heimgekommen.
Von nun an hat der stete
Untergang des Mannes begonnen. Abend für
Abend schließt sich der Mann in seinem Zimmer ein und stellt die leeren
Flaschen auf den Küchentisch. Seine Frau trägt die Flaschen zurück und reiht
sie vor seiner Zimmertür auf, bis er sie entsorgt.
„Er begeht vor Deinen Augen
Selbstmord“, hat die Tochter neulich zu ihrer Mutter gesagt.
„Ja“, hat die Frau gesagt. In
ihrem Gesicht hat der Mundwinkel und die Augenbraue ein wenig gezuckt.
„Das Grauen“, hat sie gesagt,
„ist etwas, das ich erkenne aber nicht mehr spüre“.
Die Tochter hat ihre Mutter
angefleht, dem Mann wenigstens mit Wärme zu begegnen.
„Ja“, hat die Frau genickt. Dann hat sie der Tochter die Hand auf die
Schulter gelegt und die Tochter hat gespürt, wie die Hand gezittert hat.
Die Frau hat sich an diesem Tag
rasch von ihrer Tochter verabschiedet und
ist zurück in das Haus gegangen und hat die vor der Tür des Mannes
aufgereihten Flaschen weggeräumt und ist zu Bett gegangen.
„Er ist mein Mann“, hat sie
gedacht, „was ist geschehen?“
Und weil sie nichts gefühlt hat,
ist die Antwort im Schlaf untergegangen.
Der Mann hat in seiner Unterhose
vor dem Spiegel in seinem Zimmer gehockt, eingerahmt von einer Armee aus Flaschen.
„Prost!“, hat er zum Spiegel
gesagt.
Er ist nicht mehr ins Bett
gegangen. Irgendwann hat ihn der Schlaf auf den Boden hinfallen lassen.
Eine Frau und ein Mann in einem
Haus.
Die Nacht hält sie fest.