Sprachakrobatik zwischen Hölle und Hoffnung
Hans Haiders Ernst Jandl 1925 - 2000 beeindruckt durch die Balance zwischen Vollständigkeit und Lücke
Pati, das Katerchen, kuschelt mit Jandl |
„Die Hölle – das ist man selber. Nicht permanent. Die Hoffnung – das sind die
anderen. Nicht alle.“ Ernst Jandl, so liest man in Hans Haiders Jandl-Biografie,
spricht diese Worte anlässlich der Verleihung des Großen Österreichischen
Staatspreis für Literatur im Jahre 1984. Da zählte er bereits zu den ganz
Großen der deutschsprachigen Literatur, zu den Neuerern und Giganten der
Nachkriegslyrik. Heute ist er längst ein Klassiker, seine Sprechgedichte, so
Ottos Mops, erstaunten, belustigten bereits so manches Schulkind.
Nicht zuletzt als „Lebensmensch und Liebesmensch“ von
Friederike Mayröcker bekannt, mit der er seit seinem 30. Lebensjahr bis zu
seinem Tod – weitgehend ohne Zusammenleben – ein illustres Paar abgab, brannte
sich ein Foto in die Erinnerung der Literatur-Welt, auf dem die Beiden, ein
wenig drapiert wie in einem Beckett-Stück, er mit Clownsnase und sie mit
Krönchen auf dem Scheitel, den Betrachtern des Fotos skeptisch entgegensehen.
In Ernst Jandl. 1925 – 2000. Eine konkrete Biografie
erfährt man nun, wie sehr sich der Dichter gerade von dieser Fotografie gestört
und missachtet fühlte. „Er habe nicht das geschrieben, was er geschrieben habe
und damit in der Literatur etwas Ebenbürtiges neben Schönberg und Webern zu
setzen versucht, daß jetzt jemand daherkomme und ihn mit einer Pappnase als
Clown ablichte.“ Auch verwehrte er sich vehement gegen die Etikettierung, Teil eines
„schreibenden Paares“ zu sein, während Friederike Mayröcker im Doppelgrab beerdigt
werden wollte, als seien sie und Ernst Jandl „ein Körper“ gewesen.
Hans Haider, ehemaliger Kulturredakteur und selbst Träger
eines österreichischen Staatspreises (für Literaturkritik), konzentriert seinen
Blick bewusst auf die Perspektive von Ernst Jandl, dessen bereits geordneter
Nachlass, dessen Texte und Gedichte, Reden, Hörspiele, Theaterstücke und all
jene Erinnerungen, die von Zeitgenossen des Dichters übermittelt sind, in
Archiven (oder auch in selbst geführten Interviews) zu finden waren. Eine
schier überwältigende Menge an biografischen Daten und Nachweisen also, die zur
Sichtung für den Biografen zur Verfügung standen, so dass eine chronologische
Abfolge wiedergegebener Fakten aus Jandls Leben eine nahezu überwältigende
Vollständigkeit auf fast 600 Seiten präsentiert.
Die besondere Eigentümlichkeit dieser Biografie liegt im
Kontrast zwischen der Ausführlichkeit biografischer Daten bezüglich Leben und
Werk Ernst Jandls und dem ebenfalls weitgehenden Verzicht auf Wertungen,
Interpretationen, subjektiven Beurteilungen oder Ausschmückungen um das Fakten-Skelett
herum. Immerhin war Haider seit 1972 eng mit dem Paar Jandl/Mayröcker
befreundet, doch der Autor vermeidet jede Art von Kommentierung aus seinem
eigenen subjektiven Standpunkt heraus, verzichtet auf jede anekdotische Plauderei
aus dem sprichwörtlichen Nähkästchen, ja, er gibt nicht im entferntesten
Einblick in sein Insiderwissen über das Privatleben seines Freundes und bezeugt
ihm damit, vermutlich zum letzten Mal, den allergrößten Respekt. „Mit der
Bezeichnung „konkrete Biographie“ soll die dem subjektiven Faktor ebenso wie
feuilletonistischen Ausmalungen widersagende Beschränkung auf nachprüfbare
Fakten und Texte herausgestrichen werden“. Die Freundschaft zwischen Ernst
Jandl und Hans Haider bleibt in dieser Biografie (außer als kurze Notiz in der
Einleitung) unerwähnt, ein einziger Satz im ganzen Buch benennt einen „Hans
Haider“ in der 3. Person Singular.
So trocken sich das Konzept, dessen sich der Autor Haider
bedient hat, auch anhören mag, diese Biografie liest sich spannend, packend und
durchaus (trotz ihrer Länge) kurzweilig. Erstens ist die Sprache, derer sich
Haider bedient, bei aller Verknappung dennoch dicht und atmosphärisch. „In den
nächsten, seinen letzten zehn Lebensjahren hätte er leiser treten müssen. Er
tat es nicht.“ Diese lapidaren Sätze beispielsweise folgen auf eine quälend
genaue Schilderung von Jandls Erschöpfung, damit einhergehenden Erkrankungen,
seiner Depression und eines gebrochenen Kniegelenks.
Zweitens ist diese Biografie ein anregendes wie aufregendes
Zeitzeugnis der gesamten deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Allein das mehr
als 20 Seiten zählende Namensregister versammelt das weitgehende who`s who der
Literaturszene dieser Zeit.
Last but not least sind sowohl das Leben als auch der Charakter dieses
brüchigen Mannes, dieses – in jeder Hinsicht – Schwergewichts, aufregend
zwischen Aufruhr, Sehnsucht, Rebellion und Bedürftigkeit angelegt, so dass es
der Erwähnung einer Diagnose aus dem manisch-depressiven Formenkreis kaum noch
bedarf, um den Atem der Leser manches Mal stocken zu machen.
In 11 Kapiteln, jeweils unterteilt in Unterkapitel, schlägt
Haider den Bogen eines Lebens, angefangen mit „Jung sein zwischen zwei Kriegen“,
hin zu „Mit Kraft und Mühe dem Ende zu“. Allein die Kindheit von Ernst Jandl
gibt genügend Anlass, die Gedanken der Leser mit allerlei Küchenpsychologie
nebst diverser Assoziationen und Fantasien über Tage hinaus zu beschäftigen.
Den Tod der Mutter Luise (man denke an Jandls Laut und Luise) erlebt
dieser im Alter von 14 Jahren, nach hasserfüllten Kämpfen gegen deren, dem
Jugendlichen bigott erscheinenden, streng praktizierten Katholizismus.
Aufkeimende Todeswünsche des Kindes, gegen die kalt erscheinende Mutterfigur,
veranlassen Ernst Jandl bis ins hohe Alter hinein zu der Erinnerung an tiefsitzende
Schuldgefühle. Bei ihm hört sich das dann in einer Klage von 1977 so an:
„(…) so sei ich (üch) drauffenkommen:
heunt! Heulnd! Heuleuleul!
sie han sich der dod geholen,
und ich sein seiter nicht erhohlen. (haaben).
gönnen! gönnen!“
Dank Haider wissen die Leser nun auch, wie sich der Einfluss dieses Traumas
nach Ansicht des behandelnden Psychiaters Leo Navratil auf dessen Kunst
ausgewirkt haben mag:
“Die glückhafte Geborgenheit an der Brust und im Schoß der Mutter und die
Sehnsucht, dorthin zurückzukehren, ist aber auch der Ursprung und das Ziel
allen literarischen Schreibens.“
Es sind diese lose nebeneinandergestellten, zu wilden
Assoziationen inspirierenden Fundstücke, die aus dem Buch von Hans Haider einen
wahren Schatz werden lassen. So auch der Hinweis, dass Ernst Jandl bis zuletzt
mit der Unklarheit lebte, ob seine angebliche Tochter, entstanden aus der
Liebelei mit einer Haushaltshilfe, nicht doch weit eher vom eigenen Vater
gezeugt worden ist: „"vater du bist mir noch eine antwort schuldig aber du
bist dazu viel zu lang tot und ich viel zu lang nicht."
Eine spannungsreiche Kindheit und Jugend also, dazu erlebter
Faschismus und Krieg, genug Einwirkungen auf Jandls junge Seele, um daraus den
Künstler in sich zu formen, dem Radikalität und Unerbittlichkeit attestiert
werden. Sein anfängliches Aufbegehren gegen Vater und Mutter wendet sich später
zum Kampf gegen die Stützpfeiler der erzkonservativen Nachkriegsgesellschaft in
Österreich, die von ihm in der Verehrung von „Religion“ und „Vaterland“ gesehen
werden. Seine anfänglich am Konventionellen geschulten Gedichte wandeln sich,
nachdem er das Werk Gertrude Steins sowie Eugen Gomringers Konkrete Poesie
kennengelernt hat. Seine Sprechgedichte werden zu Waffen, schnarrend vor
begeistertem Publikum gelesen, man denke an das allseits bekannte Lautgedicht schtzngrmm.
Der von Konservativen dominierte
Literaturbetrieb Österreichs rächt sich zunächst an Jandls Provokationen, indem
er bis in die Mitte der 60iger Jahre kein eigenes Buch in einem Verlag
publizieren kann.
Die Kränkung dieser Jahre, „in denen er als Autor praktisch
überhaupt nicht vorhanden war, außer für sich selbst“, wird nie wirklich von
ihm vergeben sein. Das hindert auch nicht sein späterer, kometenhafter Aufstieg
in die allererste Riege der deutschsprachigen Literatur, seine Preise,
Werkausgaben, ausverkauften Lesungen, seine aufgeführten Hörspiele,
Theaterstücke und Schallplattenaufnahmen von Lyrik mit Jazz. Dass er ein
großartiger Netzwerker gewesen ist, erfährt man ebenso in Haiders Buch, wie von
seinen Aktivitäten in Gremien, Akademien und seinem großen Einfluss als
Kulturpolitiker, der unermüdlich um eine Verbesserung der sozialen Absicherung
von Autoren bemüht war. Und damit natürlich auch für sich selbst.
In seinem Gebaren war er ein Zerrissener, stets zwischen
Sicherheitsdenken und Zerstörungswut, Loyalität und Dominanzgehabe, Depression
und manischem Aktivismus pendelnd. Gegen Ende, dem sein körperlicher und
psychischer Verfall vorausging, verstummte er als Dichter fast ganz. Zuvor
hatte man ihm im Feuilleton das
„Gerade-noch-formulieren-Können-der-Verzweiflung“ zugesprochen.
Hans Haider lässt die Leser hinein, in dies Leben, das sich
selbst zu verbrennen scheint und wahrt dennoch die Diskretion. „(…) das
Geheimnis im Dunkel deines Herzens ist nicht / um von irgendjemandem gelüftet zu
werden“, schrieb Friederike Mayröcker in ihrem Gedicht wie und warum ich
dich liebe.
Die auf Vollständigkeit drängende Faktizität wird durch den
Mut zur Lücke vor der Illusion bewahrt, ein Leben in eine Nacherzählung
quetschen zu können. „Du sollst Dir kein Bildnis machen!“, schimmert als
Leitsatz über dieser Biografie, die all das versammelt, was der
Literaturwissenschaft dienlich und was von öffentlichem Interesse ist, aber vor
Spekulationen und Geflüster über die Privatperson Jandl zurückschreckt.
„Ernst Jandl: die Show geht weiter.“ Mit diesem Satz
schließt Haider diesen Lebens-Bericht. Dass allem, was nun aus dem verbliebenen
Jandl-Kosmos folgen wird, in dieser ersten und einzigen Biografie ein solides Fundament
zugrunde liegt, ist Haiders Verdienst. Ein großes, wertvolles und
dankenswertes!
Hans Haider: Ernst Jandl 1925 – 2000. Eine konkrete
Biographie
Springer Verlag, Heidelberg 2023
ISBN 9783662666388
Gebunden, 592 Seiten, 29,99 EUR
Erstveröffentlichung der Rezension dankenswerterweise auf literaturkritik.de -> , deren Rezensionsexemplar die schöne Ursache des Artikels war. Überhaupt kann man die Seiten und die Zeitschrift literaturkritik.de nicht genügend empfehlen, es ist eine pure Fund- und Schatztruhe rund um Literatur!
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