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Gustav Klimt |
X
Und Luise träumt. Große Uhren.
Kleine Uhren. Deformierte Uhren. Gläserne Uhren. Zitternde Uhren.
Ticktackticktackticktack. Ein ohrenbetäubendes Ticken im Chor. Eine der Uhren,
eine daliesk Dahinschmelzende, scheint Luise die Zunge rauszustrecken. Raus. Und
wieder rein. Und raus. Im Takt von Ticktack. Luise will fort. Fort aus diesem
Traum. Luise liegt ausgestreckt in etwas Elastischem. Etwas leicht
Schaukelndem. Sie dreht den Kopf zur Seite. Ein Gewebe. Ein überdimen-sionales,
zartes, doch festes Gewebe. Luise will sich aus dem Stoff befreien. Doch ihre
Arme kleben fest. Und ihre Beine kleben fest. Und ihr Rücken klebt fest. Luise
schaudert. Luise versteht. Ein Spinnennetz. Das Gebilde aus Fäden schaukelt
immer beängstigender. Etwas bewegt sich auf Luise zu. Über ihrem Gesicht zeigen
sich traurige Männeraugen. Männeraugen im Kopfe einer riesigen, behaarten
Vogelspinne. Wir Alle. Sagen ihr diese Augen. Hängen hier fest! Luise will
schreien. Lars Dietrich. Erkennst du mich nicht. Und Luise wird wach und blickt
in besorgte Männeraugen. Es sind die Augen von Lars Dietrich. Der sich über sie
beugt. Über Luise. Seine Frau. Wie spät ist es? Fragt Luise erschreckt. Ertappt
und erschreckt fühlt sie sich. Und Lars Dietrich, in seinem wunderbar warmen
Bariton, sagt: Es ist Abend. Luise. Nicht spät. Kurz vor Sieben. Luise. Und
dann legt er sich stumm neben seine Frau und wartet ab. Ganz selbstverständlich
liegen Lars Dietrich und Luise nebeneinander und warten ab. Beide warten ab. Ob
Luise oder ob Lars Dietrich zuerst etwas zu sagen hat. Du hast keine Ahnung,
Luise, wie schrecklich das für mich ist. Lars Dietrich spricht als Erster. Es
ist nicht immer schrecklich für mich. Aber es ist manchmal schrecklich für
mich. Sehr schrecklich. Lars Dietrich spürt, wie sich der Körper von Luise
spannt. Lars Dietrich spürt, dass Luise tot sein will. In diesem Moment. Lars
Dietrich weiß, dass Luise nicht hören will, was Lars Dietrich sagen muss.
Heute, an diesem Tag, drei Monate nach jenem Tag, an dem Luise ihre Angst
entdeckt hat. Nein. Haucht Luise. Nein. Das darfst du nicht. Lars Dietrich. Das
sollst du nicht. Lars Dietrich streicht über Luises rote Haarsträhne. Diese
lockige Strähne, die sich immer wieder ins Gesicht hinein verirrt. Er schiebt
diese Strähne zurück an die richtige Stelle, von der sie hergekommen ist.
Sachte. Warte. Heißt das. Lass es zu. Heißt das auch. Ich bin dein Mann. Luise.
Du musst mir zugestehen, dass ich fühle. Wie ich fühle. Was ich fühle. Sagt er.
Sagt Lars Dietrich. Es ist schrecklich für mich, dass du dich quälst. Tag für
Tag. Mit dem Geld. Es ist schrecklich für mich, dass ich in deiner Wohnung
lebe. Und nicht in unserer. Es ist schrecklich für mich, zu sehen, dass du auf
meinen Durchbruch wartest. Luise. Der nicht kommt. Luise. Vielleicht nie kommt.
Der Durchbruch. Luise. Es ist schrecklich für mich, wenn ich weiß, wie satt du
alles hast. Und es ist schrecklich für mich, wenn ich weiß, dass du es satt
haben solltest. Es aber nicht satt haben willst. Wegen mir. Deinem Mann. Es ist
schrecklich für mich zu wissen, dass es dir bei einem anderen Mann besser gehen
kann. Als bei mir. Luise. Denn bei mir ist bei dir. Du sorgst für mich. Und du
sorgst für dich. Und du sorgst für alle anderen. Die deinen Rat zu brauchen
glauben. Doch für dich sorgst du zu wenig. Luise. Und wenn du mehr für dich
sorgst. Dann fühle ich mich auch schrecklich. Denn dann blühst du neben mir.
Ohne mich. Oh, Luise! Und Lars Dietrich krampft eine Männerhand über seinem
Gesicht in sein Gesicht und weint. Und Luise will tot sein. Luise würde tot sein
wollen. In diesem Moment, wenn sie nicht wüsste, dass ihr Mann dann auch tot
sein wollen würde. Und das will Luise nicht. Luise liebt nämlich ihren Mann.
Und der quält sich. Und der quält sie. Und sie liebt ihn, Heute, dafür, dass er
sie quält. Mit seiner Qual. Und Luise lässt locker. Sie will nicht mehr tot
sein. Sie wird ganz Leben. Ganz lebendiger, warmer, weicher Körper. Der flutet.
Und Seele. Die flutet auch. Alles von Luise flutet zu Lars Dietrich. Der weint
noch immer. Der Lars Dietrich. Und Luise sagt nun auch etwas. Luise sagt. Lars
Dietrich. Du hast Recht. Du hast in jeder Hinsicht mit Allem Recht. Aber ich
bin glücklich. Selbst wenn ich alles satt habe, bin ich glücklich. Und wenn es
aussieht, als würde ich das für dich machen. Oder für uns machen. Dann mache
ich das Alles doch im Grunde für mich. Weil ich dann glücklich bin. Ich weiß es
nur nicht immer. Dass ich glücklich bin. Aber im Moment, da weiß ich es. Da
weiß ich, dass ich glücklich bin. So. Wie es ist. In diesem Leben. In meinem
Leben. In diesem Augenblick. Also fühle dich nicht schrecklich. Lars Dietrich.
Bitte. Fühle dich frei! Und nun weint auch Luise. Und Lars Dietrich und Luise
halten sich an der Hand. An der rechten Hand von Luise und an der linken Hand
von Lars Dietrich. Und sie weinen miteinander um die Wette. Aus Rührung weinen
sie. Und aus Überanstrengung weinen sie. Aus Müdigkeit weinen sie auch. Und
weil Heute ein Damm gebrochen ist. Ein Damm bei Luise. Und ein Damm bei Lars
Dietrich. Ein Staudamm angestrengter Höflichkeit, der alles hat Fernhalten
sollen, was nicht zuzulassen ist. Heute, in der Küche, beim brainstormen von
Lars und Lars und Luise ist er gebrochen. Der Staudamm. Und die Wahrheit hat
Einzug gehalten. Und die Wahrheit ist nie verkehrt. So weiß die kluge Luise. Aber
die Wahrheit ist immer gefährlich. Und der Lars Dietrich weiß das auch. Und in
der Nacht, als bei Mann und Frau die Ebbe auf Flut folgen darf und die Augen
wieder trocken und die Nasen geschnäuzt mit dem Mond um die Wette glänzen. Da
können sie es doch nicht lassen. Die Luise und der Lars Dietrich. Und Luise
schreibt ihr Gedicht „Das Netz der Spinnen“ und Lars Dietrich sein Lied
„Glitzernde Träne“. Doch auch dieser Song bringt ihn nicht. Den Durchbruch. Für
den Lars Dietrich. Den bringt etwas ganz Anderes. Heute. Vor einem Jahr. Also
eineinhalb Jahre, nach jenem Tag, an dem Luise alles so satt gehabt hat. Aber
das wissen sie noch nicht. Die Luise und der Lars Dietrich. Heute. In der Tiefe
der Nacht. Drei Monate und einen Tag, nach jenem Tag, an dem Luise ihre Angst
entdeckt hat. Und das ist auch gut so.
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